Hilde Domin: Wer es könnte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hilde Domin: Wer es könnte

Domin/Felger-Wer es könnte

WORTE

Worte sind reife Granatäpfel,
aaaaasie fallen zur Erde
aaaaaund öffnen sich.
aaaaaEs wird alles Innre nach außen gekehrt,
aaaaadie Frucht stellt ihr Geheimnis bloß
aaaaaund zeigt ihren Samen,
aaaaaein neues Geheimnis.

 

 

 

Alphabet der Hoffnung

Ein Wunsch findet sich auf den ersten Seiten dieses Buches:

Ich möchte von den Dingen die ich sehe
wie von dem Blitz
gespalten werden

Ein gelbgrundiges Aquarell steht neben diesem Gedicht. Die blaue Kugel in der Bildmitte bricht auseinander wie die Schale einer Frucht. Zu neuem Sehen verlockt diese Kunst. Ihren Impuls aufzunehmen braucht den Mut, Gewohntes nicht als letztgültig anzusehen:

Gewöhn dich nicht.
Du darfst dich nicht gewöhnen. …
Sag dem Schoßhund Gegenstand ab
der dich anwedelt
aus dem Schaufenster.

Ständig Neues sehend erblindet der moderne Mensch. Im Dauerzustand der Sensation erfährt er sich wie in Narkose – unfähig dazu, wirklich zu empfinden, mitzuleiden und zu handeln. Der poetisch erwünschte Blitzschlag zerteilt keinen Vorhang vor einer noch größeren Monitorwand. Der Riß in der visuellen Vollversorgung öffnet vielmehr den Weg zurück zum Unerschöpflichen, zum ABC der Schöpfung. Dieses neue Sehen mündet in das Staunen darüber, „daß noch die Blätter der Rose am Boden / eine leuchtende Krone bilden.“
Der wieder Sehende beginnt neu zu sprechen. Die Farbkompositionen des Malers und die Sprachbilder der Poetin sind nichts weniger als ein Plädoyer für die Wiedergeburt des Gesprächs aus dem Geist der Hoffnung:

Erfinde eine neue Sprache,
die Kirschblütensprache,
Apfelblütenworte,
rosa und weiße Worte,
die der Wind
lautlos
davonträgt.

Beide Künstler begegnen sich in diesem Buch als Eigenständige, ihr Werk in geduldiger und intensiver Arbeit Entwickelnde. Um Illustration als eine die Kunst des anderen in ein neues Medium übertragende Gestaltung geht es dabei in keinem Augenblick. Inspiration aber als eine Form des Verstehens und Antwortens ist überall zu spüren.
Zwei Wege nähern sich einander an und kreuzen sich. Auf den ersten Blick trennen ihre Ursprünge Welten. Hilde Domin wächst in der Metropole Köln heran. Weltoffen ist diese Kindheit.

Sonntags ging mein Vater mit mir ins Museum, also ins Wallraf-Richartz-Museum oder auch in den Kunstverein. … Mein Vater zwang mich zu nichts. Ich mußte nicht mit ihm spazierengehen, ich durfte es. Ich durfte schwimmen gehen. Ich durfte mit ihm ins Gericht. Ich durfte mit ihm ins Theater.

Die Zeit der Frühe verklärt sich zu keiner Idylle, aber sie gewährt die prägende Erfahrung verläßlicher Nähe:

Mein Vater warf keinen dunklen Schatten.

Als es längst keinen umfriedeten Ort mehr für sie gibt, erreicht sie manchmal ein Echo dieser ersten Liebe:

… als umhüllten mich Tücher,
von lange her
aus sanftem Zuhaus
von der Mutter gewoben.

Sie will Dingen auf den Grund gehen und Zusammenhänge begreifen. Von ihrem Studium der Rechtskunde, Nationalökonomie, Soziologie und Philosophie läßt sie sich nach Heidelberg, Bonn und Berlin führen und bedeutenden Denkern begegnen. Dann versinkt die abendländische Vision von Demokratie und Freiheit in einem Sog der Gewalt. Mit Millionen anderer Angehöriger des europäischen Judentums kann die junge Gelehrte nicht mehr nach Entfaltung und Vertiefung fragen. Der innere Kompaß kreist nur noch zwischen den Polen Flucht und Tod. Sie entkommt über Italien, England, Kanada, Jamaika und Kuba in die Dominikanische Republik. Nach diesem Fluchtpunkt wird sie sich fortan nennen.
Als sie 1954 Deutschland wieder betritt, ist sie zur Dichterin geworden. Der Weg zurück wird wesentlich.
Hans-Georg Gadamer sagt von ihr einmal:

Hilde Domin ist die Dichterin der Rückkehr. … Wer mit ihr realisiert, was Rückkehr ist, weiß mit einem Male, daß Dichtung immer Rückkehr ist – Rückkehr zur Sprache. Darin liegt die doppelte Symbolkraft ihrer dichterischen Aussage.

Sie kehrt zurück in ein Land, das sich selbst entstellte:

… Gestern und Morgen
sind durch ein Jahrhundert getrennt
und reichen sich nie mehr die Hand.

Ihre Rückkehr zur Muttersprache läßt wunderbar schwebende Sprachgebilde entstehen:

Über Nacht, unmerklich,
ist diese Lilie gekommen.
Über Nacht, unmerklich,
möchte ich gehn.

Ihre Gedichte steigen auf wie Schmetterlinge. In Wortflügeln verfangt sich das Licht einer Sonne, die den Rauch über verbrannter Erde oft nicht zu durchdringen vermag. Eine Poesie des Windes ist ihr Werk. Sapphos Atem hält den Ton. Im Geist der Droste legt sich Landschaft wie ein Seidentuch über das Ich. Hölderlins Mut zum Fragment stellt ihre Sätze in einen Raum des Schweigens.
Im poetischen Kosmos der Hilde Domin bewirkt der Wind Erneuerung und Inspiration. Die verkrustete Erde, dem Wind entgegengeworfen, wird wieder lebendig.

Wer es könnte…

Auch wenn jüdische Wurzeln dieser Dichterin verborgen bleiben und der Wörterbaum meistens von ihnen schweigt: wirklicher Friede, ja Schalom im Sinne weltumspannender Veränderung ist ein Leitmotiv ihres Werkes. „Mit der Sehnsucht von immer / und der Angst / von heute“ arbeitet sie daran. Noch im Moment des Privaten und Persönlichen schreibt sie stellvertretend für ihre Menschenschwestern und -brüder, die ohne Stimme sind.
Der Weg Andreas Felgers nimmt seinen Anfang in der Landschaft der Schwäbischen Alb. Baumgesäumte Bachmäander schreiben sich ihr wie Runen ein. Schroffe Vorsprünge überragen Felswände. Weite zerfällt in Hügelzüge, an die sich Wacholderbüsche klammern. In dieser rauhen Schönheit muß der Mensch seinen Platz erst finden. Hier ist er nicht alles. Die Scheune mit dem verwitterten roten Dach löst sich im Ackerbraun und Herbstgold auf. Sich zu begreifen als Teil eines Ganzen bleibt eine Grundempfindung des Malers.
Die Jahre an der Münchner Kunstakademie weiten und vertiefen das Spektrum seiner malerischen Sprache. Über Jahrzehnte bindet er sich an das Holz, ja er verbindet sich mit ihm. Im Holzschnitt entdeckt und entwickelt er die expressive Qualität der gegenstandslosen Fläche. Die Übermalungen und Schraffuren seiner freien Malerei sind davon inspiriert. In einer seiner seltenen Selbstaussagen sagt er:

Meine Suche gilt neuen Tiefen – im Holzschnitt, im Aquarell und im Ölbild. In der erneuten Bemalung früherer Bilder, in ihrer Übermalung, entsteht ein neuer Farbraum. Die Tradierung der Farben öffnet neue Perspektiven – eine Ahnung vom Geheimnis der Malerei. Mich interessiert das Phänomen der Grenze und des Übergangs. Häufig reihe ich Farbflächen aneinander und überziehe den Malgrund mit Linien. An ihren Schnittstellen wechsle ich den Tonwert einer Farbe von hell ins Dunkel und suche den Farbweg vom Rot zum Grün, vom Gelb zum Blau.

Vor Flucht und Vertreibung bleibt Andreas Feiger bewahrt. Doch das Fremdsein im Eigenen kennt auch er. Seine Offenheit für die biblische Offenbarung erschließt ihm neue Motive. Sie schließt aber auch manche Anpassung an Trends und manche Selbstinszenierung aus. Unterschiedliche Routen haben die Lebensboote beider Künstler genommen. An verschiedenen Küsten gehen sie ans Land, erreichen dort öffentliche Wirkung und existentielle Bedeutung für einzelne Menschen. Umso mehr überraschen das innere Nahesein, ja die Verwandtschaft der Gedichte und Aquarelle. Beschränkung und Verknappung wecken den Eindruck einer lyrischen Malerei. Die Zweige des blühenden Obstbaumes eröffnen auf den unterlegten Farbfeldern ein Wechselspiel von Helligkeitsnuancen und Formen, wie sich die Worte eines Gedichtes erhellen und spiegeln. Die Texte aber sind voller Farbverweise:

– grün, gold und blau –.

Wo das bedrohte Leben eine zweite Chance bekommt, wird es farbig.
Beiden Künstlern wird das Auge zu einem bedeutsamen Sinnbild für die Kraft der Bejahung durch das Du:

Es gibt dich
weil Augen dich ansehn und sagen
daß es dich gibt.

Hilde Domin und Andreas Feiger vergrößern häufig die Distanz zwischen Empfindung und Gestaltung, zwischen Sinn und Bild. Die Dichterin entwickelt ihre Aussagen in Widersprüchen. Der Maler verläßt das Gegenständliche. Paradox und Abstraktion sind Ausdruck ihrer Verweigerung gegenüber Kitsch, Klischee und Lüge.
Hilde Domins einziger, großer Roman trägt den Titel Das zweite Paradies. Mehr als eine Ahnung davon kann glaubwürdige Kunst nicht vermitteln. Vertrieben aus allem, was einmal ein erstes Paradies war, entstehen diese Werke in einer ausgesetzten Welt. Sie wissen es:

… der Wunsch verschont zu bleiben, taugt nicht.

Doch auch die vielfach bedrohte Ahnung eines zweiten Paradieses macht nicht passiv, sondern schöpferisch. Worte und Farben erzählen von ihr – im Alphabet der Hoffnung.

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

Oliver Kohler, Vorwort

 

 

 

Die zweite Geburt

Hilde Domin, geborene Löwenstein, verheiratete Palm, begann 1951, als 42-Jährige, im dominikanischen Exil ihre ersten Gedichte zu schreiben, wenige Wochen nach dem Tod der Mutter. Domin reflektierte diesen Neubeginn in ihren autobiografischen Schriften. Sie verstand ihn als Ausgleich für den Verlust der Mutter und überhöhte ihn zur zweiten Geburt:

Ich, H. D., bin erstaunlich jung. Ich kam erst 1951 auf die Welt (…)

Und sie assoziierte diese Urszene literarischer Kreativität mit der Neuentdeckung der Muttersprache als ihrer eigentlichen Heimat:

(…) da stand ich auf und ging heim, in das Wort.

Da erscheint es nur konsequent, dass sie sich mit der Selbsterfindung als Dichterin zugleich auch einen neuen Namen zulegte: Hilde Domin, nach der Dominikanischen Republik, dem Ort, der ihr Zuflucht vor nationalsozialistischer Verfolgung bot:

Ich nannte mich
ich selber rief mich
mit dem Namen einer Insel
gerade als ich an Land ging.

Zeichenhaft überhöht wie diese Urszene erscheint auch Domins literarische Nähe zu Nelly Sachs. Zwar lernten sich die beiden Dichterinnen persönlich nie kennen, doch ab 1959 standen sie im Briefwechsel miteinander. Beide sahen sich in einer Art schwesterlicher Schicksalsgemeinschaft verbunden. Sachs widmete Domin den Gedichtband Flucht und Verwandlung (1959) mit dem Satz „Für Hilde – verschwistert von Anbeginn“. Und Domin verstand die 18 Jahre ältere Lyrikerin als Stellvertreterin, die durch ihre literarische Auseinandersetzung mit dem Holocaust auch die jüngere Schwester im Geiste entlastete, indem sie „meine Toten bestattet, all diese fremden furchtbaren Toten, die mir ins Zimmer kamen“.

 

Auszug und Rückkehr auf Raten
In den ersten Jahren ihrer literarischen Produktivität hatte Hilde Domin kaum Ambitionen, ihre Gedichte zu veröffentlichen. Das tat sie erst nach der Rückkehr nach Deutschland, 1954, zunächst vereinzelt in literarischen Zeitschriften. Erst 1959 erschien ihr erster Gedichtband Nur eine Rose als Stütze – ein spektakuläres Debüt. Zu diesem Zeitpunkt war Hilde Domin 50 Jahre alt und hatte die Hauptstationen ihres Lebens bereits hinter sich: eine behütete Kindheit und Jugend in Deutschland vor 1933, zweiundzwanzig Jahre des Exils in fünf Ländern und die erste Phase einer noch unbewältigten Remigration.
Hilde Domin wurde 1909 in Köln geboren und wuchs in einem assimilierten jüdischen Elternhaus auf. Der Vater war ein angesehener Rechtsanwalt, die Mutter Sängerin. Die Tochter erhielt, wie im jüdischen Bildungsbürgertum üblich, eine gute Schulbildung in einem privaten humanistischen Mädchengymnasium und studierte 1929 bis 1932 in Heidelberg, Köln-Bonn und Berlin, zunächst Jura, auf den Spuren des verehrten Vaters, dann Soziologie, Philosophie und Nationalökonomie. Hilde engagierte sich in einer sozialistischen Studentengruppe, wo sie, ähnlich wie Anna Seghers und Hannah Arendt, marxistisch geschult wurde. Der Philosoph Karl Jaspers, dessen Schülerin auch Hannah Arendt war, der Nationalökonom Karl Mannheim und der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch gehörten zu Hilde Domins akademischen Lehrern.
1932, als sich die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bereits abzuzeichnen begann, wich Hilde Löwenstein mit ihrem Partner, dem Archäologen und Kunsthistoriker Erwin Walter Palm, nach Italien aus. Der ursprüngliche Plan des Paares, ins Spanien der Zweiten Republik zu emigrieren, ließ sich nicht verwirklichen. Die junge Frau studierte nun in Rom und Florenz und promovierte dort 1935 in Politischer Wissenschaft mit einer Arbeit über die Staatstheorie der Renaissance. Auf das Angebot einer akademischen Karriere an der Universität Florenz verzichtete sie und verdiente ihren Lebensunterhalt durch Sprachunterricht und Übersetzungen.
Nach der Annäherung Mussolinis ans Hitler-Regime und dem Erlass antisemitischer Rassengesetze in Italien 1938 wurden viele jüdische Bürger sowie deutsche Emigranten und Hitlergegner verhaftet oder ausgewiesen. Deshalb entschlossen sich Hilde und Erwin Walter Palm, die seit 1936 verheiratet waren, im Februar 1939 zur Flucht; über Sizilien und Paris erreichten sie England. Doch hier war man, bekanntermaßen, wenig flüchtlingsfreundlich. So reisten die Palms im Sommer 1940 unter schwierigen und demütigenden Bedingungen, im Unterdeck eines kleinen Dampfers, weiter über Kanada, Jamaika und Kuba in die Dominikanische Republik, weil kein anderes Land sie aufnehmen wollte.
Die Dominikanische Republik akzeptierte Emigranten vor allem aus politisch-formalen Gründen. Hier landeten, ähnlich wie in Mexiko, vor allem die linken, nicht begüterten Flüchtlinge, die in den USA nicht willkommen waren. Mit ihrer Hilfe versuchte die Regierung, ein europäisches Bildungssystem aufzubauen und den weißen Bevölkerungsanteil zu erhöhen. Die Dominikanische Republik war nur formal demokratisch, de facto herrschte Diktatur. Die Emigranten hatten wenig Freiheit, ihre künstlerische Produktivität war massiv eingeschränkt. Entsprechend ernüchtert und distanziert beschreibt Hilde Domin denn auch ihre Situation:

Zuflucht am Rande, wo man nicht weiter weglaufen kann, so weit ist man schon gelaufen, sondern abwartet, ob man weiterleben darf. Ob die Welt wieder aufgeht.

Immerhin aber gelang es den Palms, sich in Santo Domingo eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Erwin Walter Palm wurde Professor für Kunstgeschichte an der Universität, Hilde Palm, die mittlerweile eine Ausbildung zur Fotografin absolviert hatte, wurde 1948 Universitätsdozentin für Deutsch. Ihre ausgeprägte Sprachkompetenz – sie beherrschte vier Sprachen – erleichterte Integration und Arbeitsleben und bereitete sicherlich auch aufs literarische Schreiben vor. Die Ehe war, das zeigen Domins Briefe an ihren Mann, extrem belastet durch dessen anhaltende Affären und durch qualvolle gegenseitige Abhängigkeit. Vielleicht auch deshalb hielt sich Hilde Palm immer wieder für längere Zeit in den USA auf. New York wurde 1953 auch zur ersten Station ihrer Rückkehr nach Deutschland.
Es war eine Rückkehr auf Raten. Sie war geprägt von hohen Erwartungen und entsprechend großen Enttäuschungen: in der Auseinandersetzung mit den neu-alten politischen Verhältnissen in einem Nachkriegsdeutschland, das – nach der NS-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg – nicht mehr das Land war, das die Palms 1932 als junge Leute verlassen hatten. Im Februar 1954 kam das Paar auf Einladung des DAAD erstmals wieder nach Deutschland, nach Hamburg, Berlin, Frankfurt und Köln, in die Heimatstadt der Dichterin. Das Gedicht Köln benennt die schmerzlichen Erfahrungen dieser ersten Wiederbegegnung:

Die versunkene Stadt
für mich
allein
versunken.

Ich schwimme
in diesen Straßen.
Andere gehn.

Die alten Häuser
haben neue große Türen
aus Glas.

Die Toten und ich
wir schwimmen
durch die neuen Türen
unserer alten Häuser.

Fast ein Jahr wohnten Hilde Domin und ihr Mann dann in München und Oberbayern. 1957 bis 1959 lebten sie in Frankfurt, hier begann die Dichterin, Kontakte zum literarischen Leben zu knüpfen. Sesshaft wurden die Palms aber vorerst nicht. Sieben Jahre lang hausten sie in möblierten Zimmern; vier dieser Jahre verbrachte Domin in Spanien, dessen Sprache ihr seit dem dominikanischen Exil besonders vertraut war und wohin sie viele literarische Verbindungen hatte. Erst Anfang 1961 ließ sich das Ehepaar endgültig in Deutschland nieder. E.W. Palm hatte einen Ruf auf eine Professur für iberoamerikanische Kunst- und Kulturgeschichte an der Heidelberger Universität angenommen. So wurde Heidelberg, die Stadt ihrer Studienanfänge, für Hilde Domin zur letzten Station eines an politisch erzwungener Unrast reichen Lebens. Hier starb sie mit 96 Jahren im Februar 2006, zu einer Zeit, in der ihr Lebensthema, die politische Verfolgung durch die Nationalsozialisten, die Emigration und Remigration, in ihrer öffentlichen Relevanz längst durch andere, nicht minder drängende Migrationsthemen abgelöst worden war.
„Die Rückkehr, nicht die Verfolgung war das große Ereignis meines Lebens“, schreibt Hilde Domin in ihren Erinnerungen. Die Etappen und retardierenden Momente dieses langen Remigrationsprozesses spiegeln die existenzielle Krisensituation, der sich die Dichterin ausgesetzt sah. Zugleich aber war dies auch die Zeit ihrer größten literarischen Produktivität.
Deren Keimzelle bildete die Erfahrung von Vertreibung und Exil. Entfalten konnte diese Produktivität sich jedoch erst mit der Rückkehr nach Deutschland. Und nur hier konnte die Schriftstellerin, der Sprache wegen, einen adäquaten Resonanzboden finden.
Innerhalb weniger Jahre entstanden drei Gedichtbände, Nur eine Rose als Stütze (1959), Rückkehr der Schiffe (1962) und Hier (1964), die im hochrenommierten S. Fischer Verlag erschienen. Ein vierter Band, Ich will dich, erschien 1970 bei Piper. Zentrale Themen von Domins Lyrik sind die Erfahrungen des Fremdseins, in der Vertreibung wie bei der Rückkehr. Der autobiografische Kontext ihrer Gedichte ist relativ unverstellt, das lyrische Ich dem erlebenden Ich sehr nah.
Mit dieser Lyrik hatte Domin Erfolg, ebenso wie Nelly Sachs. Diese Gedichte trafen den Zeitgeschmack der Sechzigerjahre, als die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit eben begann. Seit dem Erscheinen ihres ersten Gedichtbandes engagierte sich die Autorin auch gesellschaftlich, war erfolgreich unterwegs mit Lesungen, Vorträgen, später auch Poetikvorlesungen, in denen sie die Bedingungen lyrischen Schaffens theoretisch reflektierte. Domins literarischer Erfolg und ihre gesellschaftlichen Aktivitäten spiegeln sich auch in zahlreichen Auszeichnungen und Preisen, die sie seit 1971 erhielt.
Weniger Erfolg hatte sie als Prosaautorin. Ihr Roman Das zweite Paradies, dessen erste Fassung 1960 abgeschlossen war, blieb umstritten. Der S. Fischer Verlag lehnte das Manuskript ab; das Buch erschien, nach Umarbeitungen, 1968 bei Piper, Domins neuem Verlag.
Die Resonanz auf den Roman war im Ausland durchweg positiv, in Deutschland divergierte sie stark. Anstoß erregten zum einen die experimentelle Form, die sich der realistischen Erzähltradition verweigerte, aber auch die vorsichtig-kritische Haltung der Erzählerin gegenüber der jungen Bundesrepublik. Das zweite Paradies blieb Domins einziger Roman.
In der letzten Phase ihres Schaffens wandte sie sich, neben der literaturtheoretischen Reflexion, vor allem dem Erinnern, der Autobiografie, zu. Die beiden 1974 und 1982 erschienenen Bände Von der Natur nicht vorgesehen und Aber die Hoffnung nehmen Domins großes Lebensthema wieder auf: die Entfremdung von und die Rückkehr nach Deutschland – die Heimkehr ins Wort.

Edda Ziegler, aus Edda Ziegler: Verboten – verfemt – vertrieben. Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010

 

 

Margret Karsch: „Das Dennoch jedes Buchstabens“. Hilde Domins Gedichte im Diskurs um Lyrik nach Auschwitz

Hilde Domin spricht über Lyrik und ihr Werk. Erster deutscher Dichterabend an der Rice-University, Housten Texas, 1964. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 2

Hilde Domin spricht über das Exil. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 3

Nelly Sachs Preis an Hilde Domin 1983. Enthält Dankesrede Hilde Domins bei der Überreichung des Nelly-Sachs-Preises 1983 und Laudatio von Peter Rusterholz, anschließend tritt die Gruppe SOMA auf. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 4

Offener Brief an Nelly Sachs 1966. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 5

Mein Judentum. Hilde Domin erzählt. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 6

Wozu Lyrik heute? Hilde Domin diskutiert mit Schülern, und liest das Gedicht „Postulat“, 1975. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 8

Lesung Hilde Domin. (Enthält u.a.: „Ars longa“, „Wen es trifft“) Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 9

Lesung Hilde Domin. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 12

Lesung Hilde Domin. (Enthält Auszüge aus Spiegel-Artikel zum Thema NPD). Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 13

Wortwechsel. Hilde Domin liest und im Gespräch 1977. Mitglieder des Arbeitskreises Literatur vom Weide-Gymnasium in Butzbach befragen Hilde Domin zum Wirklichkeitsbezug von Lyrik. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 14

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Hans Jürgen Heise: Hilde Domin, Nachtrag zum 75. Geburtstag
Neue Deutsche Hefte, Heft 195, 3/1987

Zum 90. Geburtstag der Autorin:

Otto Friedrich: Wüste einsteckbar
Die Furche: 8.8.2002

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Beate Weber: Eine ungewöhnliche Bürgerin
Marion Tauschwitz (Hrsg.): Unerhört nah. Erinnerungen an Hilde Domin, Kurpfälzischer Verlag, 2009

Ulla Hahn: Schreiben war das Unverlierbare
Emma, 1.7.2009

Cornelia Üding: „Nur eine Rose als Stütze“
Deutschlandfunk Kultur, 27.7.2009

Ulla Hahn: Magische Gebrauchsgegenstände
Die Zeit, 23.7.2009

Anna Ditges: Laudatio von Anna Ditges zum 100. Geburtstag von Hilde Domin
Stadtbibliothek Heidelberg, 27.7.2009

Michael Braun: Botschafterin der Versöhnung
Konrad Adenauer Stiftung, 26.7.2009

Werner Friebel: Die Wortmagierin des Dennoch
Deutsche Nationalbibliothek, 2009

Fakten und Vermutungen zur Autorin + DAS&D + KLG + ÖM +
IMDb + Archiv 12 + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Hilde Domin: Furche ✝︎ Spiegel ✝︎ FAZ ✝︎ BZ ✝︎ Tagesspiegel

 

Hilde Domin – Wortwechsel (1991). Christa Schulze-Rohr interviewt Hilde Domin.

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