Letizia Mancino: Ein lyrisches Porträt von Hilde Domin

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Letizia Mancino: Ein lyrisches Porträt von Hilde Domin

Mancino-Ein lyrisches Porträt von Hilde Domin

EIN LYRISCHES PORTRÄT VON HILDE DOMIN

(…)

Ihren Tätigkeitsdrang erlebten alle Menschen, die in ihrer Nähe standen: Kaum ein Mensch konnte mit ihrer Vitalität konkurrieren. Mit ihren Lesungen war sie fast wöchentlich unterwegs, – auch mit 90 Jahren war sie erstaunlich aktiv – und nahm täglich in Heidelberg an dem kulturellen Leben teil: Sie liebte nicht nur Konzerte, Theater, Kino, Vorträge, Lesungen und Empfänge, sie ging auch gern spazieren: Man traf sie auf steilen Waldwegen, im Schloßgarten oder am sonnigen Philosophenweg.

Ihr Lebensdurst war groß, ihre Lebensklugheit nicht kleiner: Für die Umsetzung der vielen Projekte, die einen gewöhnlichen Menschen erschöpft hätten, hatte die Dichterin einen Freundeskreis um sich gebildet.
Ihre alten Freundinnen und Freunde waren immer froh, wenn ihre „Hildchen-Nimmersatt“ eine neue Bekanntschaft schloß. Sie waren dankbar, wenn die „alte Dame“ neue Menschen und frische Kräfte für den Freundeskreis holte. Mit Behagen sahen sie, wie sie mich in den Kreis der „Auserwählten“ aufnahm. Dies verdanke ich einem guten Schutzpatron: Wolfgang von Goethe. Er war nämlich der unfreiwillige Vermittler der ersten Begegnung mit Hilde Domin gewesen: Bei der Eröffnung des Jubiläumsjahres 1999 des Dichters traf ich sie zum erstenmal persönlich. Meine künftige Freundin war nicht nur eine berühmte Person, ein begehrter Ehrengast, sondern auch ein aufmerksamer, ja sehr kritischer Zuhörer bei den Veranstaltungen. Ihr Gesichtsausdruck war wie ein Spiegel: Wurde sie müde, bedeutete dies, daß das Vorgetragene schlecht oder uninteressant war.
War sie noch bis zum Schluß quicklebendig, war dies eine Auszeichnung für den Veranstalter.
Bei der langen Eröffnungsfeier des Goethe-Jahres in der historischen Alten Aula der Heidelberger Universität blieb sie ganz munter: Sie hatte sich über meine Worte sogar amüsiert. Vielleicht kommt es nicht sehr oft vor, daß die Vorsitzende einer deutschen Goethe-Gesellschaft eine italienische Malerin ist, die noch dazu mit Witz die pompöse Zeremonie abschließt. Meine spontane Natur ließ mich unbekümmert die steife Atmosphäre der Aula mit einem „Furore-Finale“ auflockern: Nach einer gut einstudierten Inszenierung traten sechs gut aussehende Physikstudenten in die würdige Alte Aula ein: Jeder junge Mann trug eine Flasche Goethe-Wein: Nach Goethes Farbenlehre waren sie einzeln in farbiges Papier verpackt. Sie überreichten sie feierlich Professor Günther Debon, dem großen Gelehrten, der bekanntlich sich mit Goethe – (und dem Goethe; Wein) blendend auskannte.
Der Wein war die öffentliche Anerkennung für seine Vorbereitungen der Jubiläums-Ausstellung:
Goethe und Heidelberg. Goethe schenkte uns auch ein passendes Gedicht, das hervorragend geeignet war, die Schritte unserer Wein-Schenker zu begleiten:

„ERGO BIBAMUS!“:

„Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun;
Drum, Brüderchen! Ergo bibamus!
Die Gläser, sie klingen, Gespräche, sie ruhn,
Beherziget Ergo Bibamus!
Das heißt noch ein altes, ein tüchtiges Wort:
Es passet zum Ersten und passet so fort,
Und schallet ein Echo vom festlichen Ort,
Ein herrliches Ergo Bibamus!

(Goethe)

Ich trug das Gedicht mit meinem italienischen Akzent vor: Hilde Domin lächelte.
Mein südliches Temperament gefiel ihr sehr, sie wollte mich kennenlernen:
In der Sammlung fehlte ihr gerade eine italienische Freundin!

Mit diesem Prost begann das Goethe-Jahr und auch unsere siebenjährige Freundschaft.
Ja, „Ergo Bibamus“ verdanke ich viel, obwohl ich gestehen muß, daß ich seit 30 Jahren keinen Wein mehr trinke. Die Dichterin entpuppte sich bald als eine anstrengende Person: Dies war unter den Freunden und in der Stadt bekannt, mir noch nicht. Gleich nach dem ersten Ausflug mußte ich schmerzlich feststellen, daß ich ungeeignet war, ihr eine gute Begleiterin zu werden.
Spaziergänge in den Wald waren mir unheimlich. Schon meine Vorfahren hatten eine gewisse Abneigung gegen solche düsteren deutschen Wälder.
Sie war von Wäldern entzückt, ich war dagegen entsetzt: Unter „unfrisierten“ Bäumen, die wild im Wald wachsen, wollte ich nicht laufen. Als Autofahrerin für lange Strecken war ich auch unbrauchbar.
Wie sollte ich Hilde Domin meine Dienste erweisen? Am besten zu Hause, dachte ich: Das Problem war nur „WIE“. Ich fand eine gute Lösung: Spielen mit den Worten! Dieser Verführung würde sie sich kaum entziehen können! Wir begannen bald, ihre Gedichte gemeinsam ins Italienische zu übertragen.
Freilich waren viele Gedichte von ihr schon früher ins Italienische übersetzt und veröffentlicht worden, doch an diesen hatte sich die neunzigjährige alte Dichterin nicht beteiligt.
Die kreative Arbeit, die große Freude an dem Wiederfinden der Worte der eigenen deutschen Sprache in der „Fremdsprache“ leuchtete in ihren Augen: Das Spielen mit den Worten hatte sie verjüngt.

Warum sprechen wir überhaupt von einer „Fremdsprache“ und nicht lieber von einer Freundessprache? Durch diese Sprache wuchs unsere Freundschaft.

Wir arbeiteten zusammen wöchentlich an den Übersetzungen: Auf „unsere Wort-Kinder“, waren wir sehr stolz:

Sie schienen uns viel besser als die von anderen Übersetzern. In dieser Zeit begann ich nicht nur, mich in die Werke der Dichterin zu vertiefen, sondern auch das Leben dieser alleinstehenden alten Dame kennenzulernen: Sie war in ihrem Privatleben ein völlig anderer Mensch als in der Öffentlichkeit.

Hilde Domin konnte gut Italienisch, sie hatte die Sprache in den sieben Jahren „Vorexil“ in Rom und Florenz gelernt: Es war erstaunlich, daß sie Italienisch nicht verlernt hatte, obwohl inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen war. Wie gut ihre Sprachkenntnisse auch des römischen Dialektes waren, konnte mir bei der Übersetzungsarbeit nicht entgehen: Besonders bei dem Gedicht „Gehe hin“.

Sie kannte auch Worte der Umgangssprache, die sehr häufig im Familienstreit, in Osterien oder im Straßenverkehr von den Römern verwendet werden.
Sie mußte diese Worte oft gehört haben. Denn ohne viel Nachzudenken verbesserte sie meine prüde Übersetzung und setzte triumphierend den richtigen Wortlaut in den Text ein:
Sie fühlte sich wie eine echte Römerin und kritzelte genüßlich in das Blatt.
Als sie die Übersetzung mit dem Originaltext verglich, staunte die Dichterin über sich selbst: Hatte sie im Deutschen wirklich „Affenhintern“ geschrieben?

Das Gedicht fanden wir unappetitlich und schoben es zur Seite, denn es war Zeit für das Mittagessen.
Ihre Küche war unsere Werkstatt. Sie war „fucina“ und „cucina“ zugleich: So wunderbar ähnlich klingen diese Worte in der italienischen Sprache!
Wir haben Gedichte übersetzt und gleichzeitig das Essen auf den Herd gesetzt.

Bei jedem Besuch bei ihr trug ich immer zwei Taschen: Eine mit Wörterbuch und Gedichten und die andere mit Gerichten. Sie war nach der geistigen Arbeit immer sehr hungrig! Sie sei – sagte sie – ein Mensch mit „kleinem Hunger“, doch wenn sie hungrig wurde, mußte sie sofort essen. Mit dem Essen war sie eigentlich sparsam: Die Erinnerung an die Exilzeit war ihr gegenwärtig: Dies hatte Folgen: Nach jedem Essen im Restaurant war sie gewöhnt, die Reste der Speisen nach Hause mitzunehmen. Diese Speisereste bot sie am nächsten Tag den Freunden an, die sie besuchten und teilte sie „schwesterlich“ mit ihnen. Als sie diese Gewohnheit auch bei mir einführen wollte, fing ich an, zwei Taschen mitzunehmen. Ich verwöhnte sie mit meinen besten Rezepten aus Italien… und sie vergaß dabei ihre Speisereste im Kühlschrank. Sie war doch eine „Gourmet–Lyrikerin“.

(…)

 

 

 

Margret Karsch: „Das Dennoch jedes Buchstabens“. Hilde Domins Gedichte im Diskurs um Lyrik nach Auschwitz

Hilde Domin spricht über Lyrik und ihr Werk. Erster deutscher Dichterabend an der Rice-University, Housten Texas, 1964. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 2

Hilde Domin spricht über das Exil. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 3

Nelly Sachs Preis an Hilde Domin 1983. Enthält Dankesrede Hilde Domins bei der Überreichung des Nelly-Sachs-Preises 1983 und Laudatio von Peter Rusterholz, anschließend tritt die Gruppe SOMA auf. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 4

Offener Brief an Nelly Sachs 1966. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 5

Mein Judentum. Hilde Domin erzählt. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 6

Wozu Lyrik heute? Hilde Domin diskutiert mit Schülern, und liest das Gedicht „Postulat“, 1975. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 8

Lesung Hilde Domin. (Enthält u.a.: „Ars longa“, „Wen es trifft“) Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 9

Lesung Hilde Domin. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 12

Lesung Hilde Domin. (Enthält Auszüge aus Spiegel-Artikel zum Thema NPD). Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 13

Wortwechsel. Hilde Domin liest und im Gespräch 1977. Mitglieder des Arbeitskreises Literatur vom Weide-Gymnasium in Butzbach befragen Hilde Domin zum Wirklichkeitsbezug von Lyrik. Aus Nachlass Hilde Domin: Tonband 14

Zum 75. Geburtstag von Hilde Domin:

Hans Jürgen Heise: Hilde Domin, Nachtrag zum 75. Geburtstag
Neue Deutsche Hefte, Heft 195, 3/1987

Zum 90. Geburtstag von Hilde Domin:

Otto Friedrich: Wüste einsteckbar
Die Furche: 8.8.2002

Zum 100. Geburtstag von Hilde Domin:

Beate Weber: Eine ungewöhnliche Bürgerin
Marion Tauschwitz (Hrsg.): Unerhört nah. Erinnerungen an Hilde Domin, Kurpfälzischer Verlag, 2009

Ulla Hahn: Schreiben war das Unverlierbare
Emma, 1.7.2009

Cornelia Üding: „Nur eine Rose als Stütze“
Deutschlandfunk Kultur, 27.7.2009

Ulla Hahn: Magische Gebrauchsgegenstände
Die Zeit, 23.7.2009

Anna Ditges: Laudatio von Anna Ditges zum 100. Geburtstag von Hilde Domin
Stadtbibliothek Heidelberg, 27.7.2009

Michael Braun: Botschafterin der Versöhnung
Konrad Adenauer Stiftung, 26.7.2009

Werner Friebel: Die Wortmagierin des Dennoch
Deutsche Nationalbibliothek, 2009

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Hilde Domin – Wortwechsel (1991). Christa Schulze-Rohr interviewt Hilde Domin.

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