Hilde Domin: Zu Wolfgang Bächlers Gedicht „Nüsse“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolfgang Bächlers Gedicht „Nüsse“ aus Wolfgang Bächler: Ausbrechen. –

 

 

 

 

WOLFGANG BÄCHLER

Nüsse

Das blonde Haar der Toten
wächst aus der harten Erde,
vergilbt zu unseren Füßen.
Der Nußbaum wirft uns
welke Blätter zu.

Doch in den Nüssen
bilden sich Gehirne aus.
Bald werden wir die Schädel knacken,
die Gehirne aus den Schalen lösen
und zerbeißen, Geschmack
der Weisheit dieser Erde auf der Zunge.

 

Unter Kannibalen

Fern ist dieses Gedicht den von Benn so gerügten „deutschen Bewisperern von Gräsern und Nüssen und Fliegen“. Das ist ein Totengedicht, ein Mord- und ein Mördergedicht, so vegetabilisch es auch daherzukommen scheint. Vielleicht nicht zufällig erinnert mich das „blonde Haar der Toten“, das „aus der harten Erde“ wächst, an Jewtuschenkos Zeilen:

indes die Henker heiter Butter schmieren
aufs weiße Brot das aus den Toten wächst

Obwohl es bei Jewtuschenko noch vergleichsweise klare Verhältnisse sind, deutlich benannt, und die sich unter Dritten abspielen: den Hingerichteten und ihren Henkern. Wir selbst sind raus aus der Sache, sind Zuschauer, für diesmal.
Nicht so bei Bächler, obwohl das Gedicht zwar trübe, aber relativ normal beginnt. Die Toten sind endgültig tot, Herbst, welke Blätter, vergilbte Gräser, verbleichendes Totenhaar. Nur die Gehirne der Toten wachsen in den Walnüssen als kleines Faksimile nach:

bilden sich aus.

Ein surrealistisches Bild, wie von Dali oder, besser noch, von Max Ernst gemalt. Sofort einleuchtend. Diese weißen Mini-Gehirne, die Nußkerne, enthalten, sozusagen metaphorisch, das von den Toten Gedachte, das somit den Lebenden wieder zur Verfügung steht. Das Erfahrungspotential der Toten wirkt weiter: die Vergangenen speisen die Lebenden. Kontinuität. Alles bestens.
Wirklich? Mitnichten. Da ist ein einziges Wort, das bringt diesen an sich innerhalb des Oberrealen geradezu natürlichen Ablauf in Unordnung, gibt die Angst, ja das Entsetzen wieder, das den Schreiber zu diesen Zeilen getrieben hat. Das Wort „Schädel“. „Bald werden wir die Schalen knacken“, das würde dasselbe sagen und wäre harmlos. Stattdessen:

Bald werden wir die Schädel knacken.

Der Toten? Oder der zu Tötenden? Bei dem Worte „Schädel“ werden diese Toten wieder warm, werden – zumindest – zu frisch Erschlagenen.
Dabei ist „Schädel knacken“ noch nah beim brain-picking der Angelsachsen: Ein gutes Gehirn wird „bepickt“. Es wird ihm durch dieses Bepicken Information abgefragt. Wenn auch für pick die erste Bedeutung im Lexikon „aufhacken“, „ein Loch machen“ ist, so hat sich das Verb in dieser Redensart doch bedeutend abgeschwächt. Während „knacken“ („Schädel knacken“) etwas hörbar Zerstörerisches hat. Der Schädel des Feindes, dessen Gehirn man trinkt, um sich dessen Kraft anzueignen, ein magischer Akt unter Kannibalen. Noch bei Homer kommt das vor. Nestor trinkt das Gehirn des Feindes aus. – Auf jeden Fall ist hier das rein optisch vorgestellte Gehirn eine harte Substanz, die sich sauber herauspräparieren und mit Genuß zerbeißen läßt. Wir Kannibalen, Oberkannibalen, brauchen uns dabei nicht einmal zu beschmutzen.
Daß der Autor ganz wesentlich ein Mann der Ängste ist, geht aus seinen „Traumprotokollen“ hervor. Bächler hat „nicht von der blauen Blume geträumt, sondern von Stalin und von uns“, sagt Martin Walser im Nachwort zu diesen „Traumprotokollen“ (Hanser, 1974).
Die in diesem Gedicht spürbare Angst ist eine doppelte: die des Mitschuldigen und des potentiellen Opfers. Denn Bächler identifiziert sich auch mit diesem Baum:

Doch dann wuchs mir
ein Baum aus der Brust…
Die Wurzeln umklammerten mein Herz…
er atmete mit mir aus und ein

(„Mein Baum“, ein Gedicht, von dem der Autor mir bestätigte, daß es gleichzeitig mit dem ersten, sozusagen im selben Atemzug entstanden ist). Ein Todesgedicht, wie so oft bei Bächler. Durch die Verbindung der beiden Gedichte wird klar, wie berechtigt es ist, den Schrecken mitzulesen nicht nur dessen, der mitmacht beim kannibalischen Miteinander, beim Knacken der Schädel der andern, sondern der in jedem Augenblick sich der Gefahr bewußt ist, selber „geknackt“ zu werden. Ein, leider, ungemein heutiges Lebensgefühl: von der Gefährdung und der Unmenschlichkeit unserer Existenz.
Der gehobene Abgesang der letzten Zeile: als habe der Autor sich in eine stabilisierende Formel flüchten wollen. Diesen tönenden Worten einen kleinen befreienden Fußtritt zu geben und sie auf Kante zu stellen, war vermutlich beabsichtigt. Diese Distanzierung gelingt ihm im Titel: „Nüsse“. Der Titel ist, wie so oft, die Selbstbefreiung des Autors.

Hilde Dominaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

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