Hugh MacDiarmid: Ein Wind sprang auf

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hugh MacDiarmid: Ein Wind sprang auf

Macdiarmid/Böttcher-Ein Wind sprang auf

IN MEMORIAM DYLAN THOMAS

Ich freute mich, da aus Wales einmal wieder
das Zischen eines dreifedrigen Pfeiles kam,
der aussah, als hätte er sich nie bewegt.

Jetzt aber hat der Bogenschütze einen nächsten
an die Sehne gesetzt und entläßt den Pfeil steil in die
aaaaaLuft,
teils Abschiedsgeste, teils Triumph:
Wie schön! Ich sah ihn steigen,
die Sonne war schon westwärts gegen Abend hin,
da, als der Pfeil die Bäume übertraf
und ins Strahlenlicht klomm,
fing er an zu brennen wie die Sonne selbst.
Empor und hoch flog er, nicht flatternd, wie ers getan hätte
durch schnappendes Abschießen, sondern segelnd, schwimmend,
ehrgeizig dem Himmel zu, stetig, golden, prächtig.

Grad als er seine Kraft verloren,
grad als sein Ehrgeiz ermattet schon vom Schicksal
und er sich vorbereitet hatte, nachzulassen, abzufallen,
zurückzuströmen in den Schoß der Mutter Erde,
ergab sich ein schreckvolles Omen:

Eine blutige Krähe, erschöpft flügelschlagend
vor der sich nähernden Nacht.
Sie kam, sie zagte nicht, sie nahm den Pfeil,
sie flog davon, schwer und steigend,
mit dem Pfeil im Schnabel. Ich war voll Zorn.
Ich hatte seine Bewegung geliebt,
seinen brennenden Ehrgeiz im Sonnenlicht,
es war ein so herrlicher Pfeil,
vollkommen ausbalanciert, scharf, fest gefedert,
sauber gekerbt und weder krumm noch zerkratzt.

Ich war rasend, aber ich fürchtete mich auch:
Es gibt ein sehr altes und wiederkehrendes Vorzeichen in unserer Geschichte.
Wir erinnern uns des Falles von Valerius Corvus
(Ach, wäre mein Bogenschütze gerettet worden wie Valerius
von einer Krähe, die ihn vorm Feind versteckte mit ihren Schwingen!)
und der berühmten Episode im großen irischen Epos von Ulster,
dem Táin Bó Chuailgné,
in dem die Göttin Morrigu den Cuchulainn,
der ihre Liebe verachtet, angreift
in Krähengestalt.
(Eine ähnliche Episode ist auf schmuckreicher Oberfläche einer
etruskischen Vase im Florentiner Museum dargestellt
zwischen Szenen vom Trojanischen Krieg.)
Die Krähe ist nicht purer Flug der Phantasie:
ist ein Geschöpf, das für Schlacht steht,
für die Götter und die Göttinnen des Krieges.

Doch nicht für immer das Licht löschen kann die Krähe
mit ihren gespreizten Schwingen
noch das Gesetz der Schwerkraft aufheben,
noch den Pfeil verschlingen.
Wir werden ihn zurückbekommen. Keine Furcht!
Und wie werde ich mich freuen, wenn der Krieg vorbei
und aus Wales kommt einmal wieder
das Zischen dreifedrigen Pfeiles,
der aussieht, als hätte er sich nie bewegt.

 

 

 

Nachbemerkung

An zentraler Stelle im Werk des Dichters Hugh MacDiarmid steht die Distel, das Symbol Schottlands. Im Schatten der englischen Rose und in der philiströsen Enge, in welche die anglisierte schottische Bourgeoisie und die presbyterianische Kirche das Land getrieben hatten, drohte sie zu verdorren. Der kämpferische nationale Zug seiner Dichtungen wird in der vorliegenden Auswahl evident. MacDiarmids Nationalstolz ist nicht mit kleinbürgerlichem Nationalismus zu verwechseln, noch ist er provinzlerischem Eigenständigkeitsstreben gleichzusetzen. Die literarische Erneuerung ist für ihn ein Teil des Unabhängigkeitskampfes gegen England, das seit der Union der beiden Parlamente (1707) das politische und ökonomische Schicksal ebenso wie die Kultur der schottischen Nation entscheidend beeinflußte.
Hugh MacDiarmid – das ist das Pseudonym des im Jahre 1892 in Langholm, Dumfries, als Sohn eines Briefträgers geborenen Christopher Murray Grieve, der nach pädagogischen Studien die journalistische Laufbahn einschlug. Die Teilnahme am ersten Weltkrieg ließ ihn die Misere Schottlands und den Charakter der Bourgeoisie erkennen. Seit Beginn der zwanziger Jahre setzte er sich als Herausgeber verschiedener Zeitschriften für die Wiederbelebung der schottischen Sprache und Literatur ein. Er strebte keine Restauration des Alten an, wie sie sich im sentimentalen Burns-Kult des Bürgertums manifestierte. Vielmehr forderte er eine auf den fortschrittlichen Traditionen der einheimischen Nationalliteratur aufbauende kulturelle Wiedergeburt, die an das Werk des satirischen Dichters William Dunbar (1465?-1530?) und die echten volkstümlichen Züge im Schaffen von Robert Burns (1759-1796) anknüpfen sollte. MacDiarmids Gedichtbände Sangshaw (1925) und Penny Wheep (1926) leiteten die Revolution in der schottischen Literatur ein, sie markieren den Beginn der „schottischen literarischen Renaissance“, die in der Folgezeit in allen Bereichen des Lebens wirksam wurde.
Aus den verschiedenen schottischen Dialekten schuf Hugh MacDiarmid ein äußerst biegsames und melodisches sprachliches Medium, das er „synthetisches Schottisch“ nannte. Weit davon entfernt, artifiziell zu sein, vereinen frühe Gedichte wie „Der abgebrochene Regenbogen“, „Wilde Rosen“ oder „Mondlicht zwischen den Kiefern“ Bildhaftigkeit der Sprache mit rhythmischer Schönheit und starkem emotionalen Gehalt. Mit ihnen steht der Dichter in der Tradition der kurzen lyrischen Strophe, des Volkslieds und der Ballade. Er nutzte jedoch das Schottische nicht nur für Naturlyrik und die Behandlung ländlicher Thematik. In seinem berühmtesten Werk, dem in Monologform geschriebenen dramatischen Gedicht „A Drunk Man Looks at the Thistle“ (1926), verwendete er es mit Erfolg in philosophischen, politischen und literarischen Zusammenhängen. Gegenstand dieser leidenschaftlichen, weitverzweigten Traumallegorie ist das Ringen eines Menschen mit den eigenen Widersprüchen und denen seiner Heimat, ein Prozeß, an dessen Ende die schwer erkämpfte Selbsterkenntnis steht.
„A Drunk Man Looks at the Thistle“ – das Werk wird in unserer Auswahl in Ausschnitten vorgestellt – wurde wegen der ungewöhnlichen Aussage, wegen der nationalen Thematik nur von wenigen Lyrikkennern und Kritikern positiv aufgenommen, in England wurde es jahrelang so gut wie totgeschwiegen. Die Haltung der bürgerlichen Kritik zu MacDiarmid, dem sie als einem der Begründer der Nationalen Partei Schottlands wenig Sympathie entgegenbrachte, wurde noch ablehnender, als er sich unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise dem Kommunismus zuwandte und im Jahre 1934 der Kommunistischen Partei beitrat. Seine politische Haltung und die Publikation des Bandes First Hymn to Lenin, and Other Poems (1931) bewogen bereits in den dreißiger Jahren die meisten Presse- und Zeitschriftenredaktionen des Inselreiches, Gedichte und Artikel aus seiner Feder nicht mehr zu veröffentlichen. Da ihm seine meist in niedrigen Auflagen erscheinenden Gedichtbände kein ausreichendes Einkommen sicherten, siedelte er 1933 auf die Shetlandinsel Whalsay über. Dort lebte er unter unsagbaren Entbehrungen bis 1942. In jenen Jahren erschienen die Bände Stony Limits, and Other Poems (1934) und Second Hymn to Lenin, and Other Poems (1935), die bestätigten, was sich in den Sammlungen To Circumjack Cencrastus (1939), First Hymn to Lenin, and Other Poems (1931) und Scots Unbound, and Other Poems (1932) bereits abgezeichnet hatte. Der Dichter löste sich vom Schottischen und schrieb vornehmlich in englischer Sprache. Ob dies sprachliche Ursachen hatte oder mit seiner Enttäuschung über die geringe Resonanz der frühen Werke zusammenhängt, das sei – genau wie seine Äußerung, der Übergang zum Englischen sei durch eine Krise in seinem persönlichen Leben ausgelöst worden – dahingestellt. Wichtig ist lediglich, daß sich zur gleichen Zeit auch ein Wandel in MacDiarmids Auffassungen von der Dichtkunst vollzog. 1938 schrieb er: „Von der Lyrik der Schönheit wende ich mich der Lyrik der Weisheit zu – das heißt, der Lyrik über moralische und intellektuelle Probleme und die Emotionen, die sie hervorrufen.“ Für diese „Tatsachendichtung“, wie er sie bezeichnet, die er in den folgenden Jahren noch weiterentwickelte, dürfen Gedichte wie „Verwandlung und Wandlung durch Kunst“, „Horoskop für eine neue Weltordnung“, „Edinburgh“ und „Dritte Hymne an Lenin“ als Beispiele gelten. Das trifft auch auf das Poem „The Battle Continues“ (1957) zu, an dem MacDiarmid seit 1936 schrieb. Diese polemische Dichtung richtet sich gegen den faschistischen Dichter Roy Campbell (1901-1957), der auf der Seite Francos kämpfte und in „Flowering Rifle“ (1939) den Sieg der Faschisten verherrlichte.
Im allgemeinen tendieren diese Verse zum Prosarhythmus – der Dichter bemerkte einmal, es sei abwegig, zwischen Lyrik und Prosa zu unterscheiden −, doch allenthalben scheint in prägnanten Bildern und rhythmisch ausgefeilten Zeilen die lyrische Begabung MacDiarmids hervor. Die Sprache der Naturwissenschaften, ökonomische, soziologische und sonstige theoretische Exkurse, schwierige Bezüge und Anspielungen sowie Zitate aus den verschiedensten Literaturen sind charakteristisch für diesen Teil seines Schaffens, das dem Propagandistisch-Aufklärerischen den Vorzug vor dem Lyrisch-Emotionalen einräumt. Die dichterische Gestaltung wird zugunsten der Vermittlung von Wissen, der Information und Erziehung zurückgedrängt, das Ergebnis ist eine auf der marxistischen Philosophie beruhende Lehrdichtung, die den allseitig gebildeten kommunistischen Menschen der Zukunft zum Ziel hat.
Die Presse Schottlands hat den revolutionären Dichter Hugh MacDiarmid von den dreißiger Jahren bis in die frühen sechziger Jahre fast einmütig geschmäht. Dabei war sein Ruf als Lyriker bereits bei seiner Rückkehr in die Heimat (1942) gefestigt. Als zu seinem siebzigsten Geburtstag ein Band ausgewählter Gedichte erschien, erfolgte der Durchbruch zur Anerkennung in England, Amerika und anderen westlichen Ländern. Anläßlich der Feierlichkeiten zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag hatte sich endlich die Auffassung durchgesetzt, daß er neben Dunbar und Burns der größte schottische Dichter ist und zu den bedeutenden Lyrikern der Welt gehört. Hugh MacDiarmid und die von ihm ins Leben gerufene literarische Renaissance haben vornehmlich auf Lyriker gewirkt, etwa auf Alan Bold (geb. 1943) und andere Talente der jüngeren schottischen Generation, aber auch auf Prosaschriftsteller wie Lewis Grassic Gibbon (James Leslie Mitchell, 1901-1935) und Dramatiker. MacDiarmid hat sich darüber hinaus durch Übertragungen gälischer und anderer europäischer Dichtungen (von Lorca, Majakowski, Block, Rilke) verdient gemacht. Reisen in sozialistische Länder, wo seine Werke gut bekannt sind, sowie nach Amerika, Schweden und Kanada, aktive politische Tätigkeit in der Kommunistischen Partei und unermüdliches Eintreten für seine Überzeugung von der freien Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit im Kommunismus runden das Bild eines Mannes ab, mit dem die schottische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts wieder Anschluß an die großen Literaturen der Welt gefunden hat.

Hans Petersen, Nachwort, Januar 1968

 

Hugh MacDiarmid

– eigentlich Dr. Christopher Murray Grieve – schottischer Lyriker, Essayist und Politiker, wurde am 11. August 1892 in Langholm (Dumfries) als Sohn eines Briefträgers geboren. Er studierte in Edinburgh; wurde Journalist; erlernte mehrere Berufe; schrieb natur- und heimatverbundene Gedichte, die an die Tradition eines Robert Burns anknüpften. Er war Mitbegründer der Scottish Nationalist Party und Förderer der schottischen Nationalbewegung. Trotz seiner hervorragenden Arbeit für die schottische Literatur blieb Hugh MacDiarmid lange der ihm gebührende Ruhm als einer der größten schottischen Poeten versagt. MacDiarmid begründete den schottischen PEN-Club und war Chefredakteur der Stimme Schottlands. Zu seinen bedeutendsten Veröffentlichungen gehören die Gedichtbände A Drunk Man Looks at the Thistle (1926), To Circumjack Centrastus (1930), Scots Unbound and Other Poems (1932), Stony Limits (1934), In memoriam James Joyce (1955), The Battle Continues (1958), Collected Poems (1962) und die Sammlung autobiographischer Essays The Company I’ve Kept (1966).

Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1968

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Internet Archive
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Hugh MacDiarmid liest sein Gedicht A Drunk Man Looks at the Thistle.

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