Seufzend streift der Wind durchs Land

Mashup von Juliane Duda zum Buch Seufzend streift der Wind durchs Land

Seufzend streift der Wind durchs Land

DER FERNE STERN

Ein rasender Stern,
Unendlich fern,
Unser Stern,
Zieht seine Bahn in des Weltalls unergründlichem Blau.

Und die Menschen beobachten ihn genau,
Erforschen seine Geschwindigkeit und des Auf- und Unterganges Geschichte.

Doch diese unermeßliche Ferne,
Dies aus dem Nichts des Alls geschaffene Blau
Gibt Antwort und Auskunft
Der unablässigen Neugier der Teleskope,
Dem begrenzten Gesichtsfeld der Augen und ihrem Sehvermögen.
Sollen die Astronomen seines Auf- und Unterganges Ballade
schreiben Aufzeichnen seine Eklipsen,
Unbeirrt wird er auf seinem Wege bleiben,
Als ein Wandrer des Kosmos über den Himmel treiben,
Mag er dem Blick auch entgleiten – er zieht seine Bahn.

Ich weiß nicht warum,
Doch mir scheint, daß genau so ein blauer,
Rasender Stern,
Im Weltall auf sich allein gestellt,
Auf seiner grandiosen, einsamen Bahn
Auch das Herz eines jeden Menschen erhellt,

Tief in ihm verborgen trotz Bosheit und Wahn,
Wie das Blau hinter Wolken am Himmelszelt,
Eines Sternes lichte Gestalt,
Des eigenen Fortschritts Hoffnung und Halt,
Des eigenen Wesens Charakterbild,
Ein Sohn der Titanen, furchtlos und wild.

Und deshalb will ich jedem Menschen vertrauen.

Gajanan Madhav Muktibodh, 1943
Übersetzung Annemarie Bostroem

 

 

 

Einführung

Unaufhörlich fließt der Ganges… wie die Inder sagen, die Ganga, heilige Mutter des Lebens und des Todes, Symbol dynamischer Bewegung und ständiger Veränderung.
Wie vor Tausenden von Jahren in Benares das gleiche farbenprächtige Bild: Menschenmassen aus allen Himmelsrichtungen drängen sich an der Ganga Ufern, badende Pilger, geschäftstüchtige Händler, Bettler, Scharlatane, werden auf lodernden Scheiterhaufen die Toten verbrannt, „Blumen“, das heißt deren Asche, in die heiligen Fluten geworfen, für den Hindu Dharma und Ananda – moralische Pflicht und höchste Seligkeit – zugleich. Doch nicht weit davon entfernt, in den Industriezentren von Kanpur und Bihar, fließt der Ganges durch eine andere Welt. Deren Tagesablauf wird nicht mehr vom Rhythmus der Trommeln und Mantras der Brahmanenpriester, nicht mehr von uralten Traditionen bestimmt, sondern vom Rhythmus der modernen Zeit. Indien ist in Bewegung geraten, ist aus dem Kuhdungzeitalter (Nehru) ins Atomzeitalter getreten. Seine kürzlich stattgefundene Kernexplosion bestätigt nur das längst Erwiesene.
Indien – ein Land mit einer reichen, jahrtausendealten Kultur, ein Land, in dem die Dichtkunst seit eh und je gepflegt und geschätzt wird. Auch sie ist in Bewegung geraten; doch das ist im allgemeinen noch viel zu wenig bekannt. Für viele verbindet sich indische Lyrik auch heute noch nur mit den Namen Rabindranath Tagore und Mohammed Iqbal, den beiden großen Humanisten und Freiheitssängern des indischen Bürgertums.
Ein Hindernis für das Kennenlernen der modernen indischen Literaturen ist zweifellos die Sprachbarriere, die sich naturgemäß auf dem Gebiet der Lyrik weit hemmender auswirkt als in der Prosa. Außerdem, was nur zu oft übersehen wird, Indien ist ein Subkontinent, Europa vergleichbar, mit einer Bevölkerungszahl von 600 Millionen. Neben den offiziellen dreizehn Hauptsprachen der Indischen Union und deren elf verschiedenen Schriftsystemen gibt es weitere drei Dutzend Regionalsprachen. Hindi nimmt unter all diesen eine Vorzugsstellung ein. Es ist die Landessprache sechs nordindischer Staaten und genießt seit der Unabhängigkeit jegliche Art staatlicher Förderung. Laut Verfassung soll es einmal Englisch, die Sprache der ehemaligen Kolonialherren, als Lingua franca der Indischen Union ablösen. Daß diese wohlgemeinte Absicht der Zentralregierung von Delhi in den anderen Staaten auf Widerstand stößt, darf nicht verwundern. Schließlich gehen die indischen „Sprachprobleme“ der letzten beiden Jahrzehnte über Sprachprobleme weit hinaus: in ihnen manifestiert sich mit allem Nachdruck das Ringen junger Nationen um nationale und kulturelle Identität, die ihnen unter der Kolonialherrschaft nur allzu lange verwehrt war.
Doch da ist nicht allein die Sprachbarriere. Indische Lyrik ist anspruchsvolle und komplizierte Lyrik, reich an allegorischen und philosophisch-symbolischen Bezügen. Sie verlangt darüber hinaus vom Leser die Bereitschaft, sich in eine ihm unbekannte Erlebnisweit hineinzudenken und zu -fühlen, eine Erlebniswelt, die nicht nur durch spezifisch indische soziale und. kulturelle Traditionen, unterschiedliche philosophische Anschauungen und Überlieferungen, fremde Sitten und Gebräuche, Kastenvorschriften und dergleichen anders geartet ist als die uns vertraute, sondern auch durch rein natürliche Faktoren wie zum Beispiel das Klima. In der lastenden Hitze der endlos langen indischen Sommermonate ist der kühle Mond eine Wohltat, ein Gegenstand des Entzückens, während die flimmernde Mittagsglut, die das Land ausdörrenden glühendheißen Sommerwinde unerträglich sind. Kommt endlich der Monsun, so bringt er nicht nur das kostbare Naß und damit Brot für Millionen darbender Menschen, sondern auch eine Zeit erhöhter Liebessehnsucht. Ein Wort allein, Regenzeit, weckt im Inder eine Welt von Empfindungen, wie sie Kalidasa bereits vor nahezu zweitausend Jahren in seinem lyrischen Meisterwerk Der Wolkenbote gestaltet hat.
Mit dem Monsun kommen jedoch auch steigende Fluten, Überschwemmungen, Naturkatastrophen, kommt nach hinduistischem Mythos die schreckliche Todesgöttin Kali, tanzt ihr Gemahl Shiva seinen rasenden Tanz der zyklischen Zerstörung. Die indische Lyrik ist reich an Natursymbolen, der Zyklusgedanke des ständigen Werdens und Vergehens dem Inder eingeboren. Überhaupt besteht zwischen ihm und seiner unbezwungenen und daher oft gewalttätigen Natur eine intimere und innigere Verbindung, als wir sie in unseren gemäßigten Zonen kennen.
Das Verständnis erschweren uns ferner die unerschöpflichen Schätze der indischen Antike, die Mythen und Legenden sowie die beiden großen volkstümlichen Nationalepen „Mahabharata“ und „Ramayana“, auf die selbst in der modernsten Lyrik der Gegenwart nur allzu gerne angespielt wird; jedem Inder seit Kindheit geläufig und verständlich, den meisten von uns jedoch kaum bekannt.
Ein weiteres Hindernis ist die relative Rückständigkeit Indiens, Ursache vieler Mißverständnisse und, bedauerlicherweise, auch einer häufigen Verkennung und Unterschätzung der modernen indischen Literatur. Vor zweihundert Jahren, als sich die deutsche Literatur mit Goethe und Schiller bereits zu literarischen Höhepunkten und zur Moderne aufschwang, steckte die indische Literatur noch im tiefsten Mittelalter, kannte weder Buchdruck noch Nationalsprachen. Die Entwicklung eigenständiger Nationalsprachen und -literaturen setzte in Indien viel später ein als in Europa, vollzog sich dann jedoch mit Beginn der Aufklärung in einem Tempo, das, an europäischen Parallelen gemessen, geradezu atemberaubend ist!
Nehmen wir zum Beispiel die Hindiliteratur, der die vorliegende Anthologie gewidmet ist. (Analoge Prozesse haben sich, mit einigen Zeitabweichungen, auch in den anderen indischen Nationalliteraturen abgespielt.) Das hindisprachige Nord- und Mittelindien erlebte seine Zeit der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Europa im 17. bis 18. Jahrhundert!). Damals wurden Gedichte noch vorwiegend in den traditionellen Poesiesprachen des Mittelalters, Braj und Avadhi, oder in der Gelehrtensprache Sanskrit verfaßt. Auch thematisch blieben sie weitgehend der mittelalterlichen religiösen Bhakti- sowie der höfischen Ritikalpoesie verpflichtet. Selbst die Prosa, zwar schon in Hindi-Khariboli, einem Delhier Volksdialekt, geschrieben, steckte zu jener Zeit noch in den Kinderschuhen.
Bharatendu Harishchandra (1850–1885) und der literarische Kreis um ihn waren die ersten, die mit ihren Werken und Schriften eine Änderung herbeizuführen suchten. Sie waren vor allem aufklärerisch-reformatorisch tätig, gestalteten das Elend des kolonialen Indiens nach der mißlungenen nationalen Erhebung von 1857 und versuchten, mit historisch längst überholten, den Fortschritt hemmenden sozialen Konventionen zu brechen, zum Beispiel der Witwenverbrennung und der Kinderehe. Doch selbst dem enthusiastischen Anwalt der Volkssprache Hindi, Bharatendu, der Beachtliches auf dem Gebiet der Dramatik leistete und seine Prosawerke vorwiegend in Hindi schrieb, gelang es nicht, diese noch junge und unentwickelte Sprache zum generellen Ausdrucksmittel seiner Poesie zu machen.
Um die Jahrhundertwende (1890–1910) folgte die Dvivedizeit, eine Entwicklungsetappe, die der Gottschedphase (1720–1750) der deutschen Aufklärung entspricht. Sie hat keine literarischen Meisterwerke hervorgebracht, doch wesentlich zur Sprach- und Stilbereinigung sowie zur Entstehung der Hindiliteraturkritik beigetragen.
Die Anfänge der Hindiromantik, genannt Chayavad, fallen ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. In den darauffolgenden Jahren erlebte diese für die Hindisprache und -literatur außerordentlich wichtige und fruchtbare Strömung ihre Blütezeit. Interessant und aufschlußreich ist dabei, daß der Chayavad in der relativ kurzen Zeitspanne von nur sechzehn Jahren Entwicklungsstadien durchlaufen hat, die Elemente des Sturm und Drang ebenso enthalten wie der Klassik und der Romantik. Er hat Genien der Literatur und des Kulturlebens hervorgebracht, die in ihrer Universalität und literarischen Produktivität, ihrem Ideenreichtum und klassischen Humanismus den Großen der deutschen Klassik in keiner Weise nachstehen. In den Händen J. Prasads, S.T. Niralas, S. Pants, Mahadevi Varmas und anderer wurde die junge Nationalsprache Hindi endgültig zu einem literarischen Instrument mit vielen Registern und Tönen, fähig, die subtilsten Gefühle und phantasiereichsten Gedankenflüge zum Ausdruck zu bringen. Ähnlich der deutschen Romantik faßte auch der Chayavad die Natur als beseelt und von Weltschmerz erfüllt auf. Tränen und Seufzer, unglückselige Liebe und Herzeleid, verursacht durch Kasten- und Standesschranken, waren Hauptthemen der Lyrik. In dieser symbolischen Verkleidung wurden jedoch auch der Schmerz über die damalige nationale Misere sowie der Beginn der nationalen Befreiungsbewegung zum Ausdruck gebracht. Viele Gedichte jener Zeit, zum Beispiel Niralas „Der Strom“, Pants berühmter Weltschmerzzyklus „Tränen“, Bachchans „Schau, wie dunkel die Nacht“ und andere sind daher doppelsinnig zu verstehen.
Mitte der dreißiger Jahre setzte bereits der Niedergang der Hindiromantik ein. Bezeichnenderweise waren es die beiden großen Rebellen des Chayavad, die Stürmer und Dränger Nirala und Pant, die nun mit gleicher Leidenschaft gegen die illusionäre romantische Gefühlswelt und mystische Wirklichkeitsentrücktheit des Spätchayavad zu Felde zogen wie zehn Jahre zuvor gegen den mittelalterlichen Dogmatismus der höfischen Ritikalpoesie und den pedantischen Klassizismus der Dvivedizeit. In ihren Gedichten und Streitschriften wurden die einstigen Begründer der Hindiromantik zu den bedeutendsten Wortführern ihrer Gegenströmung, des Pragativad (wörtlich: Progressivismus). Sowohl literatur- als auch sozialgeschichtlich hat der Pragativad vieles mit dem deutschen Vormärz (1830–1848) gemein, trägt jedoch andererseits auch Züge der Roten Dekade, jener weltweiten literarischen Erscheinung der dreißiger Jahre während und nach der Weltwirtschaftskrise. Zu jener Zeit fand der Marxismus in Indien zum erstenmal größere Verbreitung. Arbeiter-, Bauern- und Gewerkschaftsverbände wurden gegründet, es reorganisierte sich die KPI. Das indische Industrieproletariat, zwar noch schwach und zahlenmäßig unbedeutend, begann sich zu regen, das Elend der indischen Bauernschaft revolutionäre Demokraten und fortschrittlich gesinnte Gutsbesitzersöhne (vgl. Pant: „Der Dorfdichter“) zu ergreifen. 1936 kam es auch zur Gründung der Allindischen Vereinigung Fortschrittlicher Schriftsteller.
Der Pragativad war ebensowenig wie vorher der Chayavad eine rein literarische Bewegung, sondern erfaßte mehr oder weniger alle Bereiche des sozialen, kulturellen und politischen Lebens. Es war eine Zeit, da sich auf der Grundlage der marxistischen Philosophie auch in Indien ein neuer Standpunkt gegenüber der Gesellschaft und der Geschichte zu entwickeln begann. Von dieser Warte aus schrieben Pant, Nirala, Shamsher Bh. Singh, Kedarnath Agrawal, Bharatbhushan Agrawal und andere Pragativadlyriker ihre Gedichte. Nicht mehr die schöne Natur und Weltschmerzgefühle, sondern der Mensch, das arme, unterdrückte Volk, die traditionsversklavte indische Frau (vgl. Pant: „Der Schatten des Mannes“), der ausgebeutete Bauer, der Arbeiter und seine historische Mission standen im Mittelpunkt der Dichtung. Die Ausdrucksweise der Literatursprache wandelte sich erneut. Sie wurde sachlich und realistisch.
Charakteristisch für die Pragativadliteratur der dreißiger Jahre ist ihre betont sozialkritische Tendenz. In vielen Werken wurden darüber hinaus revolutionäre Anschauungen laut. So verkündete Pant in den Gedichten „Der Imperialismus“ und „Das Jahr 1940“ den Untergang des Weltimperialismus, in dem Gedicht „An Marx“ spricht er von der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft, in der die Arbeiter die Macht haben über die Produktionsmittel und alle Lebensbedürfnisse des Volkes befriedigt werden. Auch die Werke Kedarnath Agrawals, Shamsher Bh. Singhs, Bharatbhushan Agrawals und anderer waren in jenen Jahren von kommunistischen Ideen und revolutionärem Pathos getragen. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß über dem Inhalt und der Dringlichkeit der politischen Tagesforderungen nicht selten die Form vernachlässigt wurde und der Wert vieler Gedichte von damals heute weniger in ihrer literarischen Qualität als vielmehr in ihrer literatur- und sozialhistorischen Relevanz besteht.
Der Pragativad war eine kurze, doch wichtige Phase in der Entwicklung der modernen Hindiliteratur. Er leitete in allen Genres den kritischen Realismus ein. Auch das erste große realistische Prosawerk der Hindiliteratur, der Roman Das Kuhopfer (Godan, 1936) von Premchand, wurde in dieser Zeit geschrieben. Für die Anthologie wurden einige Perlen der Pragativadlyrik ausgewählt: Pants „Mutter Indien“, „Der Dorfdichter“, „Der Schatten des Mannes“, Niralas „Steine klopft sie!“ und andere.
Anfang der vierziger Jahre meldete sich schon wieder eine neue Strömung zu Wort, der Prayogvad (wörtlich: Experimentalismus). Agyeya stellte sie 1943 in der später berühmt gewordenen Anthologie Sieben auf einer Linie vor. Ein Sturm der Entrüstung drohte die junge experimentalistische Richtung zunächst hinwegzufegen. Mit ihrem neuen Ideen- und Empfindungsgehalt, ihrem „Augenblicksgefühl“, ihren eigenwilligen Audrucksformen, gebrochenem freien Vers und freien Rhythmen verstieß sie gegen alle konventionellen Regeln der indischen Lyrik. Es folgten Jahre erbitterter Kontroverse in ästhetischen Fragen, vor allem mit den Progressivisten, doch auch mit den Romantikern und anderen. Erst mit der folgenden Anthologie Die zweiten Sieben (1951) setzte sich die neue Richtung durch, nun allerdings unter dem Namen „Neue Lyrik“.
Ihr prominentester Vertreter, S.H. Vatsyayan (Agyeya), gilt gleichzeitig als der Begründer einer individualistischen Schule. Ihr Ideal ist, den „wissenschaftlichen Humanismus des modernen Menschen“ und „die Freiheit des Individuums, seine einmalige Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen“ (Agyeya). Unter seinen Einfluß gerieten zahlreiche Lyriker der jungen Generation: Dh. Bharati, Raghuvir Sahay, S. Saksena, A. Kumar, Sh. Varma und andere. Stimmungen der Vereinsamung des Individuums, der inneren Zerrissenheit, Hoffnungslosigkeit und der menschlichen Ohnmacht gegenüber der Verselbständigung der Technik im Atomzeitalter und dem, wie man meint, daraus resultierenden unaufhaltsamen Abbau aller ethischen Werte sind in ihrer Lyrik häufig anzutreffen. Sie sind letztlich Ausdruck des sich unter monopolkapitalistischen Verhältnissen auch in Indien herausbildenden Krisenbewußtseins der bürgerlichen Intelligenz.
Es ist ein Verdienst Agyeyas, in die drei Anthologien des Experimentalismus beziehungsweise der Neuen Lyrik Repräsentanten der verschiedenen ästhetischen und ideologischen Anschauungen aufgenommen zu haben, von den bürgerlichen Individualisten Agyeya, Bharati bis zu den erklärten Marxisten Muktibodh, Shamsher Bh. Singh, Ramvilas Sharma und Bh. Agrawal. Das einzige, was alle diese und andere Neue Lyriker miteinander verband, war ihr aufrichtiges Bemühen, den neu herangereiften Problemen der modernen Zeit, die nunmehr auch an Indiens Tür pochte, in ihnen entsprechenden Formen Ausdruck zu verleihen. Dabei scheute man sich nicht zu experimentieren, legte Wert auf ein visuelles Sprachbild, eine neue Lautharmonie, einen der Prosa angenäherten, nicht selten drastisch-kühnen Rhythmus. Stil und Sprache änderten sich erneut: die einen tendierten zum Stilisieren, zur elitischen Sprachverfeinerung (Bharati, Agyeya), die anderen zum volkstümlichen Hindustani, zur stilistischen Vereinfachung, zur Demokratisierung der Literatursprache (Mishra, Agrawal, Saksena). Extreme und Überspitzungen kamen vor, inhaltsarme modernistische Formspielereien wurden praktiziert, wovon sich Agyeya und andere bedeutende Lyriker der neuen Richtung jedoch bald distanzierten.
Der bürgerliche Individualismus, der von Mitte der vierziger bis Ende der fünfziger Jahre in der Hindiliteratur dominierte, wurde jedoch nicht von allen Neuen Lyrikern geteilt. Ebensowenig wie der Chayavad war die Neue Lyrik eine homogene Strömung. Und so setzte Bharatbhushan Agrawal 1955 Agyeyas berühmtem weltanschaulichen Bekenntnis „Flußinseln“ die nicht minder berühmte Replik „Inseln sind wir nicht“, sein Bekenntnis zur Verbindung von Individuum (Künstler) und Gesellschaft (revolutionäre Volksmassen), entgegen.
Agrawals Gedicht wirft gleichzeitig ein bezeichnendes Licht auf die kulturpolitische Situation jener Jahre. Die Bewegung der Pragativadschriftsteller war zum Stillstand gekommen, isoliert von den Massen, desorganisiert und in der Defensive. Ihr Traum vom Anbruch einer neuen Ära, in der der Arbeiter zu seinem Recht kommt, erfüllte sich im unabhängigen Indien nicht. Im Gegenteil, die indische Kongreßregierung verfolgte, bei aller Progressivität ihrer damaligen Außenpolitik, eine reaktionäre Innenpolitik und unterdrückte die revolutionäre Volksbewegung. Auch in den Kreisen der Progressivisten griffen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Desillusionierung, Verbitterung und Resignation um sich. Negative äußere Einflüsse und Umstände – die sich seit Mitte der fünfziger Jahre verschärfenden chinesisch-indischen Grenzstreitigkeiten, das ökonomische und politische Erstarken der indischen Monopole sowie nationalistisch-chauvinistischer Kreise, Spannungen und Konflikte in der kommunistischen Arbeiterbewegung sowie die Spaltung der KPI – begünstigten die allgemeine Depression.
Nahezu zwei Jahrzehnte währte die Fehde zwischen den Individualisten und den Progressivisten. Beide Seiten schärften ihre Federn an den literarischen Schwächen der anderen und führten alle verfügbaren „Raketen“ der internationalen Literaturtheorie und Ästhetik ins Feld. Beide Seiten sind an ihr gewachsen und gereift. Beide haben begonnen, die Sprache des 20. Jahrhunderts zu sprechen. Klassische Beispiele für Inhalt und Form der zeitgenössischen Hindilyrik sind Vajpeyis „Ein Brief an Ghalib“, Agrawals „Zwischen Netz und Schleier“, Varmas „Epitaph“, Shambhunath Singhs „Des Messias tausendster Tod“ und Ranjits „Nicht nur ein Wort“.
Thematische und stilistische Vielfalt kennzeichnet die Hindilyrik der letzten Jahrzehnte. Die traditionelle indische Exklusivität ist längst vorbei, das englische Bildungs- und Literaturmonopol gebrochen. Die Skala der in Indien gelesenen und diskutierten ausländischen Schriftsteller reicht von Bashô, Pound, Eliot, Ginsberg, Mallarmé, Rilke, Sartre und den französischen Existenzialisten bis Gorki, Majakowski, Neruda, Hikmet, Brecht und Jewtuschenko. Was in dieser Hinsicht in kürzester Zeit aufgeholt worden ist, stellt eine intellektuelle Kollektivleistung ohnegleichen dar.
Der Höhepunkt der Neuen Lyrik ist überschritten. Die letzten zehn Jahre haben das Erscheinen neuer Strömungen erlebt. Allerdings ist jetzt nicht mehr von Ismen die Rede, sondern von „Generationen“: von einer Hungrigen, einer Zornigen, einer Nackten und anderen Generationen. Nach Allen Ginsbergs Indienbesuch im Jahre 1962 gab es eine Beat-Generation. Mitte der sechziger Jahre kam die A-Lyrik auf, eine aus Krise und Misere geborene Literaturbewegung mit nihilistischen Obertönen, die darauf aus ist bloßzustellen und zu schockieren.
Literarische Beachtung verdient die Engagierte Generation. Ranjit, selbst engagierter Dichter, stellte 1968 in der gleichnamigen Anthologie acht junge Lyriker (Ranjiv Saksena, Ajit Pushkal, Syamsundar Ghosh, Ranjit und andere) vor, deren Gedichte sich wesentlich von denen der anderen Generationen unterscheiden. Ihr Aufbegehren erschöpft sich nicht in Ablehnung und Negierung, sondern versucht, anknüpfend an vorangegangene humanistische Traditionen, neue Werte und Kriterien zu schaffen. Hier findet der Pragativad der dreißiger Jahre auf einer höheren Ebene seine Fortsetzung: als Lyrik des sozialistischen Realismus.
Die progressivistische Literaturbewegung erholte sich nur langsam von der damaligen Regression. Erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre kam es zu einer allgemeinen Neuorientierung der fortschrittlichen Kräfte, und vom 22. bis 25. Februar 1973 tagte schließlich nach sechzehnjähriger Pause in Banda, Uttar Pradesh, unter dem Vorsitz Kedarnath Agrawals die Allindische Vereinigung Fortschrittlicher Hindischriftsteller. Wichtige Beschlüsse für die Verbindung von Literatur und Leben, Dichter und revolutionärer Massenbewegung sowie über die Gestaltung eines sozialistischen Lebensstils in der Literatur wurden gefaßt.
Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten…

Diese kurze Einführung in die Entwicklungsgeschichte der modernen Hindilyrik wird es dem Leser erleichtern, deren Problematik zu verstehen.
Es erhebt sich nun die Frage: Wie repräsentativ ist die vorgelegte Auswahl? Die Antwort kann nur lauten: Sie ist es im Rahmen des Möglichen. Eine Palette von über einhundert Autoren aus sechs verschiedenen Staaten und Hunderte von Gedichtbänden standen zur Verfügung. Aus diesen mußte eine begrenzte Auswahl getroffen werden. Nicht jeder Dichter von Rang und Namen, nicht jedes berühmte, doch infolge zahlreicher spezifisch indischer Bezüge schwer verständliche Gedicht konnte Aufnahme finden.
Geboten wird ein kleiner, doch charakteristischer Ausschnitt aus dem weiten und reichen Feld der modernen Hindilyrik. Beginnend mit den beiden Klassikern, Nirala und Pant, werden achtzehn führende Hindilyriker mit insgesamt achtundneunzig für sie typischen Werken vorgestellt. Auf eine abwechslungsreiche Fülle bunter Bilder wurde zugunsten einer systematischen Darstellung verzichtet. Dadurch wurde die Möglichkeit gewonnen, die Gedichte im historischen Kontext darzustellen, ein Verfahren, das uns im Interesse größerer Übersichtlichkeit notwendig erschien. Anliegen der Anthologie ist es, eine längst überfällige Wissenslücke zu schließen und den Lyrikfreunden der DDR einen Einblick in die zeitgenössische Dichtung jenes fernen und hochinteressanten Landes Indien zu geben.
Abschließend bleibt mir nur noch zu danken für das Interesse und liebenswürdige Entgegenkommen vieler Autoren, ohne deren Hilfe die Übersetzungen nicht in ihrer vorliegenden Authentizität und Ausführlichkeit der Symbolerläuterungen hätten abgeschlossen werden können.

Irene Zahra, Mai 1974, Vorwort

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