Wystan Hugh Auden: Glück mit dem kommenden Tag

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wystan Hugh Auden: Glück mit dem kommenden Tag

Auden/Schade-Glück mit dem kommenden Tag

ZUM GEDENKEN AN W.B. YEATS

(gest. Jan. 1939)

I
Er verschwand im tiefsten Winter:
Die Bäche waren vereist, die Flugplätze fast verlassen,
Und Schnee entstellte die Denkmäler;
Das Quecksilber sank im Mund des sterbenden Tages.
Was an Instrumenten wir haben, bestätigt es:
Sein Todestag war ein dunkler, kalter Tag.

Fernab von seiner Krankheit
Liefen die Wölfe durch die immergrünen Wälder,
Blieb der bäuerliche Fluß unverlockt durch die vornehmen Kaie;
Trauernde Zungen
Hielten den Tod des Dichters fern von seinen Gedichten.

Aber für ihn war es sein letzter Nachmittag als er selbst,
Ein Nachmittag der Pflegerinnen und Gerüchte;
Die Provinzen seines Körpers revoltierten,
Die Plätze seines Geistes waren leer,
Stille drang in die Vororte,
Der Strom seines Fühlens versagte; er wurde seine Bewunderer.

Jetzt ist er verstreut über hundert Städte
Und unbekannten Neigungen völlig überlassen,
Um sein Glück zu finden in einer anderen Art Gehölz
Und bestraft zu werden unter einem fremden Gewissenskodex.
Die Worte eines Toten
Werden abgeändert in den Bäuchen der Lebendigen.

Aber inmitten der Wichtigkeit und des Lärms von morgen,
Wenn die Makler brüllen wie Tiere auf dem Parkett der Börse
Und die Armen zu erleiden haben, woran sie so ziemlich gewöhnt sind,
Und jeder in der Zelle seines Ich fast überzeugt ist von seiner Freiheit,
Werden ein paar tausend denken an diesen Tag,
Wie man denkt an einen Tag, als man etwas nicht ganz Gewöhnliches tat.
Was an Instrumenten wir haben, bestätigt es:
Sein Todestag war ein dunkler, kalter Tag.

II
Du warst albern wie wir; deine Gabe überdauerte alles:
Die Gemeinde reicher Frauen, körperlichen Verfall,
Dich selbst. Narr Irland quälte dich zur Dichtung.
Irlands Narrheit und Wetter bestehen weiter,
Denn Dichtung bewirkt nichts: sie überdauert
Im Tal ihrer Erzeugung, wo die Exekutive
Ihre Finger einzieht, fließt nach Süden weiter
Von Gehöften der Isolation und des emsigen Kummers,
Rauhen Dörfern, wo wir glauben und sterben; sie überdauert,
Eine Art Zufall, einen Mund.

III
Erde, nimm den Ehrengast:
William Yeats sucht hier nach Rast.
Bette friedlich Irlands Kelch,
Der sein Lied nicht mehr enthält.

In der Nächte grauser Mahr
Bellt Europas Hundeschar,
Und die Völker stehn auf Wacht,
Abgetrennt in ihrem Haß.

Menschengeistes Schande spricht
Jedes menschliche Gesicht,
Und in jedem Auge steckt
Meer des Mitleids, eisbedeckt.

Folge, Dichter, folg bedacht
Bis zum tiefen Grund der Nacht,
Deine Stimme, unzerstört,
Helfe uns, daß Jubel währt;

Mit dem Pfluge im Gedicht
Weinberg mach aus Strafgericht,
Hingerissen von der Not
Sing, was alle uns bedroht;

In des Herzens Wüsten laß
Quellen strömen heilend Naß,
In der Tage Kerker lehr
Freien Mann das Wort: ich ehr.

Übersetzt von Ernst Jandl

 

 

 

Nachwort

Karl Kraus hat einmal von der deutschen Sprache seiner Zeit gesagt, sie sei die große Hure, die er wieder zur Jungfrau machen müsse. Mit einer ähnlichen Situation sah sich der Engländer Auden konfrontiert: „In der modernen Gesellschaft, in der die Sprache unablässig entstellt und auf Nichtsprache reduziert wird, läuft der Dichter beständig die Gefahr einer Korrumpierung seines Gehörs.“ Schon als Wystan Hugh Auden und die mit ihm befreundeten Dichter Stephen Spender, Cecil Day Lewis und Louis MacNeice – allesamt junge linksstehende Absolventen der konservativen Oxford-Universität – sich in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren anschickten, die englische Lyrik zu erneuern, geschah dies nicht zuletzt mit der Absicht, sich um eine zeitbezogene, entromantisierte, gegenständliche Sprache zu bemühen, die gleichermaßen der modischen Vermarktung des Wortes wie dem schwülstig-verschwommenen Pathos entgegenwirkte. Diese Dichter, die als Auden Group und Pylon Poets (Wendemarken-Dichter) in die Literaturgeschichte eingegangen sind, setzten sich das ehrgeizige Ziel, das moderne Leben mit all seinen besonderen sozialen, psychischen und technischen Gegebenheiten als wesentlichen Gegenstand in die englische Dichtung einzubringen und ihr den Anschluß an die progressiven Strömungen der Zeit zu sichern. Eine unmittelbar aus der industriellen Erfahrungswelt des 20. Jahrhunderts gewachsene, das veränderte Empfinden des modernen Menschen reflektierende Sprache sollte die Lyrik möglichst nahe an die Gegenwart heranrücken und die für den einzelnen immer schwerer zu erfassenden Strukturen und Vorgänge in der spätbürgerlichen Gesellschaft durchschaubarer machen. In seinem Aufsatz „Was ist modern in der modernen Lyrik“ schreibt Stephen Spender:

Wenn man von dem „Modernen“ in der Dichtung spricht, dann bedeutet dies nicht, daß sich ein Dichter auf eine Dampfmaschine, ein Auto, ein Gaswerk, einen Slum, eine Telefonklingel beziehen muß, sondern daß all diese Dinge auf irgendeine Weise Teil seiner poetischen Sensibilität geworden sind, so daß er zu seinen Zeitgenossen in einer Sprache spricht, die in den feinsten Lautschattierungen und dem subtilsten Gebrauch von Bildern eine moderne Sprache von Menschen ist, deren Ohren und Augen von solchen mechanischen Vorrichtungen umgeben sind.

Die Dichter um Auden stellten sich damit in einen bewußten Gegensatz sowohl zum romantischen Ästhetizismus spätviktorianischer Lyriker wie auch zu den rückwärtsgewandten georgianischen Naturpoeten, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in ihren Werken der industriellen Zivilisation ängstlich schaudernd den Rücken kehrten und in ein idyllisch gesehenes Gestern flüchteten. Wie T.S. Eliot, ihr Anreger, der mit seinen Dichtungen Prufrock (1917) und Das wüste Land (1922) bereits die Krise bürgerlichen Seins und das Erlebnis der neuzeitlichen Großstadt in antithetische Bilder poetischen Einfühlens und sarkastischen Desillusionierens gebannt hatte, lehnten auch die Dichter um Auden jede Teilung der Erfahrungswelt in poesiewürdige und poesieunwürdige Objekte ab; sie sahen darin eine willkürliche, ja höchst schädliche Einengung der Themenbreite und des Wahrheitsgehaltes von Literatur. Für den Dichter sei kein Gegenstand an sich schön oder häßlich, schön werde ein Gegenstand erst durch seine poetische Übertragung im Gedicht.

Wir werden der Dichtkunst einen sehr schlechten Dienst erweisen, wenn wir sie nur auf die erhabenen Erfahrungen des Lebens beschränken… Diejenigen, die – um mit Mr. Spender zu sprechen – die Lyrik auf einen Sockel stellen wollen, schaffen nur, daß sie ins Regal gestellt wird. Die Lyrik ist nicht besser und nicht schlechter als die menschliche Natur; sie ist abwechselnd tiefgründig und seicht, intellektuell und naiv, langweilig und geistvoll, zotig und rein

so formuliert Auden im Vorwort zu einer 1935 erschienenen populären englischen Gedichtanthologie seine Auffassungen zur Lyrik. Verbunden mit dieser nüchternen Sicht war bei den jungen Dichtern seines „Kreises“ das ernste Streben nach einer littérature engagée. In einem Artikel über den Iren William Butler Yeats erklärt Auden, ein großer Dichter zeichne sich aus durch „ein tiefgehendes Verständnis der Zeit, in der er lebt,“ und durch „eine genügende Kenntnis der fortschrittlichen Ideen seiner Zeit und eine wohlwollende Einstellung ihnen gegenüber“.
Diese programmatischen Äußerungen haben in den Werken Audens und seiner Freunde vor allem in den dreißiger Jahren, als sie in der englischen Dichtkunst den Ton angaben, ihre poetische Umsetzung erfahren; weit direkter als in der frühen Lyrik T.S. Eliots sind in ihren Gedichten politische, ökonomische und technische Erscheinungen und Entwicklungen ablesbar. Neben die sezierende Analyse der Gebrechen der bürgerlichen Ordnung tritt in den „roten dreißiger Jahren“ der Gegenentwurf einer von allen Zwängen befreiten Gemeinschaft der Gleichberechtigten. Menschliche Bruderschaft, soziale Revolution und wissenschaftlich-technisches Fortschreiten sind die Agenzien, die eine humanisierte, dem Wohl aller Individuen verpflichtete Gesellschaft bewirken werden. Gerade diese radikale Zielsetzung war ein Novum in der englischen Lyrik unseres Jahrhunderts.
Wie seine Dichterfreunde entstammte Auden dem Bürgertum. 1907 in York als dritter Sohn eines Arztes geboren, der ein leidenschaftlicher Liebhaber der Kultur des Altertums wie der modernen Wissenschaften war, wuchs der junge Auden in einem Milieu künstlerischer und naturwissenschaftlicher Anregungen auf. Gemeinsam mit Eltern und Geschwistern unternommene Fahrten nach Nordengland und Wales brachten ihm das Erlebnis der Berglandschaft. Dieses Erlebnis sollte später in die Bildersprache seiner Lyrik eingehen – wir finden die Welt der Berge ebenso in dem 1933 erschienenen symbolischen Sonett „Die Besteiger“ wie in der 1936 entstandenen „Reise nach Island“ oder der von ihm unter allen seinen Schöpfungen wohl bevorzugten, an Horaz erinnernden Dichtung „Ein Lob dem Kalkstein“ von 1948, in der die Landschaft aus Kalkstein zum Sinnbild der Schönheit und Geborgenheit, aber auch der Vergänglichkeit wird. Und in einem Essay beschreibt Auden fast minutiös, wie sein Wunsch-Eden geographisch beschaffen sein soll: „Ein Kalkstein-Bergland ähnlich dem der Pennin-Kette mit einer zusätzlichen kleinen Eruptivgesteins-Region und mindestens einem erloschenen Vulkan. Eine steile und zerklüftete Meeresküste“ – und fügt unter dem Stichwort „Klima“ lakonisch hinzu: „Das britische.“
Neben der Bergwelt war es vor allem die von Kindheit an vertraute Landschaft der Fabriken und Bergwerke, Kanäle und Eisenbahnen, die ihn immer wieder anzog. Bevor er auf den Rat eines Freundes hin als Fünfzehnjähriger Gedichte zu schreiben begann – sein erstes veröffentlichtes Gedicht erschien im Dezember 1922 in einer Schulzeitung -, galt sein Interesse fast ausschließlich naturwissenschaftlichen und technischen Dingen, vor allem dem Bleibergbau. Der junge Auden hatte sogar ursprünglich die Absicht, Bergbauingenieur zu werden. So zeigen auch die frühen Gedichte deutlich Spuren dieser Faszination durch Industrie und Technik; Maschine und Hochofen, Eisenbahn und Flugzeug, in der Schönheit ihrer zweckmäßigen Form beschrieben, stehen nicht selten als Symbol für die Dynamik modernen Lebens und als Verheißung eines kommenden Zeitalters, in dem der Mensch seine Möglichkeiten voll auszuschöpfen vermag.
Doch wenn auch Auden in seinem Frühwerk aus rationaler Gesinnung die Leistungen der modernen Naturwissenschaften bejaht, so verstellt ihm dies doch nicht den Blick auf die negativen sozialen Auswirkungen in einem profitorientierten System. Aufschlußreich dafür sind die halb selbstkritischen, halb selbstgefälligen Bemerkungen des „Poeta laureatus“ Sir John Betjeman über die mit Auden verbrachte Zeit in Oxford: „Ich war der alte Typ (des Oxford-Studenten), trivial, sonderlich, Schmeicheleien zugetan; ein Dinergast mit einer großen Bewunderung für die landbesitzenden Klassen und die Häuser und Parks, in denen sie glücklich genug waren zu leben. Wystan war sich bereits der Slum-Verhältnisse in Birmingham, in Bergbaustädten und Docks bewußt.“ In dem Gedicht „Die Wasserscheide“, während der Oxforder Universitätsjahre (1925–1928) entstanden und in die von Spender 1928 privat gedruckte erste Lyriksammlung Audens aufgenommen, ist am Beispiel eines verfallenden Bleibergwerks – „längst schon eingeschlafen, lebt nur noch schwach“ – auf den deformierenden Einfluß verwiesen, den eine Technik in der Gewalt des Kapitals auf Mensch und Landschaft ausübt. Der bürgerliche Betrachter, der auf diesen Torso der Technik halb gebannt, halb furchtsam und abgestoßen blickt, wirkt in diesem Milieu von Niedergang, Tod und Armut wie ein Außenstehender, ein „Fremder“; seine totale Isolation soll den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den Arbeitern und dem Bürgertum andeuten. Ähnliche Besorgnis angesichts der technischen Entwicklung spricht auch aus einem Gedicht Stephen Spenders: „Die Landschaft nahe einem Flugplatz“. Wird eingangs das Flugzeug noch als „schöner und geschmeidiger als ein Falter“ apostrophiert, so erscheint am Ende der Dichtung das Gelände des Aerodroms als ein „Ort der Hysterie“. Der Mensch wird nicht nur zum Nutznießer, sondern auch zum Leidtragenden der von ihm ersonnenen Erfindungen.
War der bürgerliche Intellektuelle Auden schon in seiner Oxforder Zeit zu der Überzeugung gekommen, daß die ihn umgebende Ordnung ihre Daseinsberechtigung verloren hat, so wurde diese Haltung noch durch den Berlin-Aufenthalt der Jahre 1928/29 verstärkt, bei dem er die ersten Sturmzeichen der heraufziehenden Weltwirtschaftskrise und den sich rapide zuspitzenden Konflikt zwischen Arbeit und Kapital beobachten konnte. Das in dieser Zeit angesiedelte Werk „1929“, ein Ostergedicht über Tod und Auferstehung, Leid und Hoffnung, reflektiert bereits die Erschütterungen und läßt den Gedanken an die Revolution anklingen, die, wie der Frühling den Winter, die konservative „alte Clique“ hinwegfegen wird. Es ist ein für den jungen Auden typisches Gedicht: die soziale Thematik geht mit psychologischen Theorien eine enge Verbindung ein. Vor allem die Lehren des amerikanischen Psychologen Homer Lane haben hier Eingang gefunden. Gerade die mittleren Teile des Gedichtes verraten den Einfluß der Laneschen Doktrin, daß die Krankheiten des einzelnen wie auch letztlich der Gesellschaft auf seelische Störungen zurückzuführen seien und Heilung nur dann eintrete, wenn das sich selbst entfremdete Individuum den Antagonismus von Verstand und Instinkt überwinde und sich zu seiner wahren Natur, seinen eigentlichen Trieben und Anlagen uneingeschränkt bekenne.
Neben die bisweilen etwas überspitzte Lehren Lanes (nach ihm führte die Unterdrückung der kreativen Kräfte im Menschen zur Krebserkrankung) treten in der frühen Lyrik Audens die Traumsymbole des Psychoanalytikers Sigmund Freud, dessen Andenken eine 1940 veröffentlichte Elegie gewidmet ist. Die eindringenden naturwissenschaftlichen und psychologischen Vorstellungen und Begriffe, die mitunter in allzu entlegene Fachtermini übergehen, geben einigen seiner Dichtungen fast den Charakter einer klinischen Diagnose. „Er fand überall Symptome“, äußert Spender rückblickend.

Symptomatisch war sein Schlüsselwort. Doch in seiner sehr ungewöhnlichen Dichtung verwandelte er diese Symptome in Figuren in einer Landschaft von Bergen, Pässen, Strömen, Helden, Rossen, Adlern, Fehden und Runen nordischer Sagas. Er war ein Dichter unüblicher Art – eine Rasse, die anders war als wir – und zugleich ein Diagnostiker literarischer, sozialer und individueller psychosomatischer Bedingungen…

Jeder einzelne entscheidet, darauf weisen die Werke Audens hin, letztlich über Fortschritt oder Niedergang der Menschheit mit. Viele der frühen Gedichte kreisen um das Thema des Widerspruchs zwischen einer fehlgelenkten individuellen Liebe und dem Wohl der Gemeinschaft. Die nur vom anderen wie einem Objekt Besitz ergreifende, sich ganz in den Raum des Privaten zurückziehende Liebe wird als Ausdruck eines bürgerlichen Egoismus gewertet, der die ganzheitliche Entwicklung des Individuums ebenso verhindert wie das Zusammenfinden der Menschen in einer universellen Bruderschaft. In dem als „Song“ bezeichneten Werk „Liebste, gib dein müdes Haupt“ allerdings, wo die körperliche Liebe zweier Menschen – bei aller Unbeständigkeit und Vergänglichkeit – in „Liebe, Hoffnung weltenweit“ mündet, sind die Gegensätze versöhnt.
Als Anfang der dreißiger Jahre die Wirtschaftskrise, in Großbritannien immer gewaltigere Ausmaße annahm, die Flut des Faschismus in Europa spürbar anwuchs und der mit einigen Hoffnungen bedachte Liberalismus total versagte, näherte sich Auden – wie auch Spender, Lewis und MacNeice – mehr und mehr der Position des Kommunismus, in dessen Lehren er den Gedanken der „universal love“, gesellschaftlich konkretisiert, am überzeugendsten aufgegriffen sah. Marx tritt, vor Freud, die sozialen Prozesse und politischen Entwicklungen werden noch präziser und tiefergehend erkundet.
Dies ist besonders stark abzulesen an den Stücken The Dance of Death (1933) und The Dog Beneath the Skin (1935) – letztes entstand in Zusammenarbeit mit seinem Freund Christopher Isherwood – wie an dem Gedichtband Look, Stranger (1936) und der Lyrik- und Prosasammlung Journey to a War (1939), literarisches Ergebnis einer Reise an den Schauplatz des Chinesisch- Japanischen Krieges. Die bürgerliche Gesellschaft wird in aller Schärfe als verantwortungslos und parasitär abgeurteilt, wie in „Die kulturelle Voraussetzung“. Sie ist als eine mit Notwendigkeit untergehende Ordnung gesehen, auf deren Trümmern man dereinst die „Gerechte Stadt“ – Sinnbild einer humanisierten, kommunistischen Gesellschaft – erbauen wird. Doch das Bewußtsein der Beschwernisse eines solchen Weges ist stets gegenwärtig; bisweilen verfällt der Dichter angesichts der Selbstsucht und Apathie allzu vieler in eine Haltung des Zweifels. Eben jene Gleichgültigkeit und Unwahrhaftigkeit der bürgerlichen Menschen, seine fehlende moralische Widerstandskraft gegenüber demagogischen Verlockungen sind für Auden Faktoren, die die Ausbreitung des Bösen – vor allem des Faschismus – begünstigen. Einer solchen Einstellung setzten Auden und seine Freunde das Bereitsein zum persönlichen Engagement gegen die Feinde von Zivilisation und Gesittung entgegen. Aus diesem Engagement ist auch die generöse Geste Audens zu verstehen, der sich 1935 bereit erklärte, die aus Deutschland emigrierte Erika Mann zu heiraten, um ihr den so dringend benötigten Paß als britische Staatsbürgerin zu verschaffen.
Als sich die spanische Republik der Franco-Invasion zu erwehren hatte, eilte Auden, der in den dreißiger Jahren als Schullehrer wie auch beim Film und beim Theater tätig war, Anfang 1937 nach Spanien und wirkte an Propagandasendungen für die rechtmäßige demokratische Regierung mit. Am 29. Mai desselben Jahres erscheint das Gedicht „Spanien 1937“, nach Spender die „beste poetische Darstellung der republikanischen Sache in englischer Sprache“. In ausladenden, assoziationsreichen Versen wird an den Menschen als den Beweger und Vollstrecker der Geschichte appelliert, seiner Verpflichtung gegenüber Zivilisation und Fortschritt gewahr zu werden. Der Kampf von heute, „die bewußte Hinnahme der Schuld“ des Tötens sollen eine Zukunft bereiten helfen, die „die Wiederentdeckung der romantischen Liebe“ bringt, in der „die Stunde des Zeremonienmeisters und der Konzerte“ anbricht. Doch zwei Jahre darauf lassen das Scheitern der spanischen Republikaner und die immer näher rückende Drohung eines neuen Weltkrieges wie andererseits auch die Auswirkungen des Personenkultes um Stalin die revolutionäre Haltung Audens und anderer linksstehender Dichter, deren marxistische Anschauungen nicht fest gegründet sind, in Resignation umschlagen. Doch die antifaschistisch-humane Grundposition bleibt bei Auden erhalten. Die Jahre 1939/40, in denen wir Auden bereits in den USA finden, bringen eine Hinwendung zu den Ansichten des frühexistentialistischen dänischen Philosophen Sören Kierkegaard und des protestantischen amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr, der – über ein Jahrzehnt Pfarrer in einer Arbeitergemeinde Detroits und überzeugter Hitlergegner für ein sozial ausgerichtetes Christentum plädierte und das Verhältnis von Geschichte, Politik und christlicher Ethik untersuchte. Audens Werke aus den vierziger Jahren, die zum Teil von der Niebuhrschen Theorie des Fortwirkens der Ursünde in unserer Zeit und der dadurch verursachten Fragmentierung der Persönlichkeit beeinflußt sind, bekunden eine skeptischere Bewertung der Möglichkeiten des Menschen, sich aus seinen Zwängen und Bedrückungen zu befreien; erkennbar ist auch eine distanzierte Stellung gegenüber Technik und Naturwissenschaft und eine kritischere Sicht rein rational bestimmter Denk- und Verhaltensweisen. Das Streben nach einer verbesserten Situation des Menschen erhält religiöse Akzente, die „universal love“ des marxistischen Dichters wandelt sich zur Agape, zur christlichen Nächstenliebe.
Auden hat den Glauben verloren, daß Literatur soziale Umwandlungen befördern kann – „Denn Dichtung bewirkt nichts“, heißt es in dem Werk „Zum Gedenken an W.B. Yeats“. Und doch formuliert er ein paar Strophen weiter den ethischen Auftrag des Dichters:

Mit dem Pfluge im Gedicht
Weinberg mach aus Strafgericht,
Hingerissen von der Not
Sing, was alle uns bedroht.

Die Kunst ist für ihn, wie er in der dichterischen Adaption von Shakespeares „Sturm“, „The Sea and the Mirror“ (1945), darlegt, ästhetisch ein Bereich der Ordnung und Harmonie, der in deutlichem Kontrast zu dem Chaos des bürgerlichen Lebens und der inneren Zerrissenheit des Individuums steht. „… aus deinen sanften Augen starrt… / Das, was wir nicht sind, das an, was wir sind.
Die Dichtung wird zum Gegenstand, der durch seine Schönheit den Menschen zur Erkenntnis seines Dilemmas bringt und ihn veranlaßt, sich, trotz seiner Skeptis, um die Verwirklichung seiner humanen Potenzen zu bemühen. In einem Essay schreibt Auden:

Wir verlangen von einem Gedicht, daß es schön sei, daß es sprachlich ein Paradies auf Erden darstelle, eine zeitlose Welt reinen Spiels, die uns erfreut, gerade weil sie von unserem geschichtlichen Dasein mit all seinen unauflöslichen Problemen und unvermeidlichen Leiden absticht, gleichzeitig verlangen wir von einem Gedicht, daß es wahr sei, daß es uns eine irgendwie geartete Offenbarung über unser Leben biete, die uns zeigt, wie das Leben in Wirklichkeit ist, und die uns aus Selbstverblendung und Wahnvorstellungen herausführt; und ein Dichter kann uns nicht die Wahrheit bringen, ohne in seiner Dichtung das Problematische, Schmerzliche, Ungeordnete, Häßliche zu lassen.

Die Werke der vierziger bis siebziger Jahre bezeugen eine antikapitalistische Haltung. Das gilt für „Die Manager“, 1948 erschienen, ebenso wie für die symbolische Dichtung „Das Zeitalter der Angst“ (1947). Das letzte ein die Ära von Atombombe und kommerzialisierter Massenkultur reflektierendes Seitenstück zu Eliot Das wüste Land, ist eine konsequente dichterische Bestandsaufnahme der Lage des spätbürgerlichen Menschen in Kriegs- und Nachkriegszeit. Mythen, Allegorien, historische Anspielungen, zeitkritische Exkurse und an Rilke gemahnende Landschaften der Psyche offenbaren die verlorengegangene Identität des Individuums, sein Unbehaustsein, seine zwischen Angst und vergeblichem Hoffen angesiedelte Existenz.
Seit Ende der vierziger Jahre verbrachte Auden, der in seiner Jugend die klare, kalte Welt der Felsen, Gletscher und weiten Ebenen Nordeuropas, vor allem Islands, bevorzugt hatte, die Frühjahrs- und Sommermonate auf der italienischen Insel Ischia und‘ ab 1958 im niederösterreichischen Kirchstetten; er gewann damit seiner Lyrik den Raum des Mediterranen, jenes liebevoll-ironisch gesehene „sonnverbrannte Anderswo / Aus Weingärten, Barock und la bella figura“, und das Gebiet der österreichischen Voralpen hinzu. Werke wie „Ein Lob dem Kalkstein“ und „Ein Lebewohl dem Mezzogiorno“ und ein „Pfingstsonntag in Kirchstetten“ benanntes Gedicht belegen dies. In jener Zeit entstanden zahlreiche Essays wie auch Libretti für Werke Igor Strawinskys und Hans Werner Henzes, die in nahe gelegenen italienischen, österreichischen und süddeutschen Musikstätten ihre Uraufführung erlebten. Mitschöpfer dieser Libretti war der geistreiche und humorvolle Chester Kallman, der Auden über Jahrzehnte bis zu dessen Tod in Freundschaft verbunden und unentbehrlicher Ratgeber für sein lyrisches Werk blieb. In einer Reihe von Gedichten zeigt sich Auden nach wie vor als unbequemer Kritiker moderner westlicher Zivilisation – ganz gleich, ob er das Schreckensbild einer gefängnisartigen Großstadt entwirft, die „Dreck und Gewalttat“ verbreitende Sensationspresse attackiert oder, wie in „Mondlandung“ (1972), den Supermann-Kult seiner Glorie entkleidet – wobei er auch sein Unbehagen an der neuzeitlichen Technik überhaupt bekennt.
Die späten Werke lassen die Person des Dichters unmittelbar hervortreten. Wir erfahren von seinem Alltag, seinen Gewohnheiten, seiner Einsamkeit (die in „Seither“ anklingt), der Ausstattung seines Hauses – auch von seinen Vorlieben und Abneigungen. Das bringt Gewinn, aber auch Verlust für seine Lyrik. Mitunter werden jetzt konservatives Beharren und vergangenheitsverklärende Haltungen spürbar; in den letzten Jahren büßt seine Lyrik an poetischer Kraft und Allgemeingültigkeit ein, sie erscheint zu stark ins Private verengt.
In der technischen Versiertheit hingegen stehen die AItersgedichte den frühen Werken kaum nach. Sie zeigen eine ähnliche Vielfalt an metrischen Formen, wie sie die Schöpfungen des jungen Auden auszeichnete. Auden äußerte einmal, er habe im Laufe seines Lebens sämtliche Versformen ausprobiert. In der Tat ist sein Repertoire erstaunlich: Es reicht vom altenglischen stabreimenden Langvers bis zum 17silbigen japanischen Haiku, von der altnordischen Drottkvætt-Strophe bis zum Sonett, von der Sestine bis zum frei rhythmisierten Vers. Auch dieses geniale Spiel auf der Klaviatur der Formen weist Auden als einen der Großen in der englischsprachigen Literatur unserer Zeit aus.
Als der Dichter kurz vor einer geplanten Reise nach Oxford am 29. September 1973 in Wien starb, fand sein Wirken ein unerwartetes, abruptes Ende. Doch seine Prophezeiung in der Elegie über William Butler Yeats hat sich auch an seinem Werk erfüllt: Die Welt hält „den Tod des Dichters fern von seinen Gedichten“.

Günter Gentsch, Nachwort

 

Wystan Hugh Auden

Der Engländer Wystan Hugh Auden (1907–1973) war der profilierteste Vertreter einer Dichtergeneration, die bereits gegen Ende der zwanziger Jahre bemüht war, durch Verwendung von Begriffen der Alltagssprache die Gegenwart neu zu interpretieren und damit ein von romantischer Verklärung befreites Weltbild zu vermitteln. Sein umfangreiches lyrisches Werk, das die europäische Dichtung unserer Zeit stark bereichert hat, spiegelt die geistige Entwicklung eines bürgerlichliberalen Humanisten wider, für den die Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg und die Auseinandersetzung mit dem Faschismus ebenso bedeutsam war wie die Beschäftigung mit metaphysischen und existentiellen Themen. Gedankliche Vielfalt und Formenreichtum seines dichterischen Schaffens werden in dieser repräsentativen zweisprachigen Auswahl sichtbar, in der sich gefühlsintensive Liebeslyrik, Reminiszenz und kritische Reiseimpression, Verteidigung künstlerischer und moralischer Werte und politische Analyse zu einem Themenkreis vereinen, der sich, verallgemeinert, mit den Worten Audens umschreiben läßt: „Es muß immer zwei Arten von Kunst geben, eine Zuflucht suchende, denn der Mensch bedarf der Zuflucht, und eine Gleichniskunst, die den Menschen lehren soll, den Haß zu verlernen und die Liebe zu erlernen.“

Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1978

 

W.H. Auden 1907–1973

Das Leben Audens: ein Amerikaner in England, als Student eine Zeitlang Marxist, Kampfflieger im Spanischen Bürgerkrieg, Professor in Oxford, poet laureate, Reise nach Island mit Isherwood, jährlicher Aufenthalt auf Ischia, und dann, plötzlich, der Abschied vom Mediterranen, ein Dorf in Österreich, wo er, abwechselnd mit New York, während der letzten fünfzehn Jahre seines Lebens wohnt, zusammen mit Chester Kallman. Wir haben uns mit Freunden von Wien aus auf den Weg nach Kirchstetten am Rand des Wienerwaldes gemacht, dort sind wir mit dem stellvertretenden Bürgermeister verabredet, der uns das Haus zeigen wird; aus dem Arbeitszimmer hat man ein kleines Museum gemacht. Meine Freunde sagen, der Bürgermeister werde wahrscheinlich noch von einem anderen Dichter sprechen, der kurz vor Kriegsende im selben Dorf Selbstmord begangen hat. Sie beschreiben diesen Josef Weinheber als eine Art Heimatdichter – ein nur schwer in eine andere Sprache Übersetzbares Wort -, er sei kein Nazi gewesen, aber trotzdem… Was auch immer dieses aber trotzdem besagen soll, es hat Auden nicht davon abgehalten, für diesen Kollegen, dem er nie begegnet ist, ein wunderschönes Gedicht zu schreiben:

Reaching my gate, a narrow
lane from the village
passes on into a wood:
when I walk that way
it seems befitting to stop
and look through the fence
of your garden where (under
the circs they had to)
they buried you like a loved
old family dog.

Categorised enemies
twenty years ago,
now next-door neighbours, we might
have become good friends,
sharing a common ambit
and love of the Word,
over a golden Kremser
had many a long
language on syntax, commas,
versification.

Der stellvertretende Bürgermeister ist eine Bürgermeisterin. Sie holt uns an dem kleinen Bahnhof ab und fährt voraus. Das erste im Haus, was ich sehe, ist die Olivetti, dann die beiden Riesenpantoffel und die Tasche, mit der er im Spar-Laden einkaufte, und dann stelle ich mir vor, wie er hereinkommt und fragt, was wir in seinem Arbeitszimmer machen und wieso ich in seinen Bücherschrank starre. The Gift von Nabokov, ein Brett mit Krimis, Jules Verne, The Complete Poems von R. Jarrell, A History of Western Technology; wir kommen uns vor wie Leute, die sich unbefugt Eintritt verschafft haben, es ist eine Erlösung, als die Bürgermeisterin uns ein Video mit einem kurzen Film vorspielt, den das Österreichische Fernsehen 1966 zu Audens sechzigstem Geburtstag gedreht hat. Das Gesicht mit den tausend Falten: in der Kirche, in die er jeden Sonntag ging, hinter den Scheiben seines Volkswagens, beim Anhören des Ständchens, das zwei kleine Kinder in Tracht ihm bringen – ein älterer Mitbürger, einer von uns, der geehrt werden mußte, weil er es weit gebracht hatte, ein Onkel mit Schlappen, der sich entschlossen hatte, unter uns in unserem Dorf zu leben, wegen der Ruhe, der Beschaulichkeit der Landschaft, wegen des guten Weins und der Nähe der Wiener Oper. Er ist im Schatten der kleinen weißen Kirche begraben, die metallene Tafel ist fast ganz unter Efeu versteckt, der vom Regen glänzt, W.H. Auden, poet and man of letters. Ein Grablämpchen mit roter Kerze, steht in meinem Notizbuch, aber was mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist, sind die beiden kleinen Kinder in ihrer Tracht, die ihren Reim aufsagen, ihre noch so ganz unbeschriebenen Gesichter, wie sie zu dem zerfurchten Gesicht des Dichters aufblicken, und das Rätsel: was wohl in jenem Augenblick hinter diesem Palimpsest gedacht wurde.

Cees Nooteboom, in: Cees Nooteboom: Gesammelte Werke Band 9, Suhrkamp Verlag, 2008

In memoriam W.H. Auden

Kirchstetten war ein unbekannter Ort in der Nähe von Neulengbach, von aussen gesehen lieblich in die blausamtene Voralpenlandschaft gebettet, innerlich wohl von den gleichen stummen Leidenschaften und unterdrückten oder ausgelebten kleinen Alltagsverbrechen und -glückseligkeiten getragen und bewegt wie jede andere in den Landschaftsgürteln der Erde, bis, ja bis die Musen sich in ihm niederliessen. In seltsamer Gestalt: zuerst in der des Weinhebers, der aus dem Fleischhauerlehrling zum grossen formalen deutschen Lyriker seiner Zeit geworden war, ohne je den Kontakt mit dem Volk zu verlieren, dessen Sprechmelodien zu lauschen er nie müde wurde. Er lauschte dem Wienerischen ebenso wie der lokalen Färbungen des Niederösterreichischen, vor allem in den Schenken oder Wirtshäusern. Daher ist es nicht überraschend, dass er sich zuletzt in einem von ihnen niederliess, als es aufgelassen wurde, wahrscheinlich, weil es nicht gut ging – auf der Nordseite von Kirchstetten, zu weit ab und seine Umgebung nicht ertragreich genug für eine Landwirtschaft. Ein Haus mit schönem Mass, sein wahrhaft eigenes: das war fürs Leben, auch wenn es nicht mehr lang dauern sollte. Eine Stube blieb immer noch dem gastlichen Gespräch vorbehalten und dem menschenverbindenden Trunk, der für alle jene Atmosphäre schaffen musste, in der der Lyriker sich immer bewegte, oder jedenfalls zu Hause war, eine entrückte, verfremdete, traumhafte.
Neun Jahre später trug sein unbestechliches Gewissen den Sieg über sozusagen alles extraterritoriale Künstlertum davon und trieb ihn erbarmungslos aus einem Haus und in den Tod. Die Gesprächsgespinste all dieser Jahre waren nicht fest genug gewesen, um ihn mit ihren Verflechtungen daran zu hindern.
Erst nach dem Krieg fand ein anderer, ein feinsinniger und hochgebildeter englischer Poet den Weg aus der Kargheit Yorks hierher. Er wollte auf dem Lande leben, wie in seiner Heimat üblich und liebte die Gegend. Inzwischen hatte die Autobahn sie durchschnitten, trennte ihn und Weinheber vom Ort, summte Tag und Nacht durch die Felder, in denen nun nicht mehr einzelne markante Häuser beherrschend standen, sondern zahllos überall aus dem Boden schossen. Nicht weil hier Dichter wohnten, wurde alles zersiedelt, sondern weil das Land und das Bauen hier noch billiger waren als anderswo.
Kirchstetten aber adoptierte den Engländer Auden mit dem freundlich zerknitterten Gesicht. Der Dichtersitz war verwaist, die Musen bereit. Und der neue Sänger fand die richtigen, nur scheinbar einfachen Worte für alles Schöne, das dort der Jahreslauf zu bieten hatte, auch er kein Verächter der Gasthäuser. Er besang die Prozessionen und Weinheber, den er nicht kannte, aber gern gekannt hätte, und dazu auch noch die Haushälterin und den Gemeindearzt als er in Pension ging, von dem er sich nur hatte untersuchen lassen, nachdem er mit ihm über den Wein Worte getauscht hatte, ihn sozusagen auf die gleiche lyrische Ebene gebracht hatte.
Gerade hatte er mit dem neuen Gemeindearzt Freundschaft geschlossen – aber er brauchte ihn dann gar nicht mehr. Das Land besiegte ihn wie Weinheber, schüttelte sie ab, liess sie ganz allein: er starb nicht in seinem verwachsenen, von der Zeit angegriffenen grünen Haus, sondern in seinem Wiener Hotelzimmer, nachdem er abends noch eine öffentliche Lesung gehalten hatte, schon im Aufbruch nach Oxford. Als man ihn am Morgen wie gewöhnlich wecken wollte, war er tot.
Er hat seinen Platz im kleinen Friedhof von Kirchstetten, wie er es wollte, gegenüber von Weinhebers Frau Hedwig. Zum Begräbnis kamen nicht viele Leute, und die Kränze sind weniger von Familie und Freunden, sondern vom Unterrichtsministerium, den Volksschülern und Lehrern von Kirchstetten, der Literaturgesellschaft und dem Bundesministerium für Wissenschaft und Kunst.
In seltsam ähnlicher Weise verlassen ist das Grab Weinhebers, obwohl im eigenen Garten seines Hauses, wo er bei Kriegsende bestattet und später belassen wurde, liegt er ganz einsam, wenn auch von aussen zugänglich, ohne Blumen, wie vergessen. Der Hügel ist nur mit kargen Steinpflanzen bewachsen, mit einer erloschenen roten Glaslaterne in Form eines Herzens, aber aus Schmiedeeisen – dauerhaft, kalt und kahl. Besucher verirren sich selten zu ihm, nur die alten Obstbäume schütteln manchmal Zwetschgen oder herbe Mostbirnen über ihn.
Es gibt einen Weinheber-Platz und eine Auden-Strasse im Ort, aber in sein Leben verflochten wie andere Sterbliche waren die beiden Dichter nicht, oder nur in völliger Verkennung ihrer wahren und höchsten Eigenschaften. So zum Beispiel war das Auden-Haus das Ziel vieler Einbrüche. Da es nicht aussieht, als wäre viel darin zu holen, muss man an Eingeweihte denken, und annehmen, dass unter den vielen Leuten, die ihn besuchten, sich nicht nur literarisch Interessierte befanden. Auden war beliebt, nicht nur bei den Intellektuellen, sondern auch im Ort, und Weinheber unterhielt einen ländlichen Dichterkreis und erfreute sich an handfesten bäuerlichen Scherzen. Doch wussten sie auch noch ganz anderes in diesem „Zeitalter der Angst“; hat der eine den „Abgrund gesprochen“ und der andere ihn gekannt, wussten sie beide um die tragisch einsame Situation des Menschen und erfuhren sie selbst, so sehr sie sich auch in der lieblichen Voralpenlandschaft eingebettet und im einfachen und komplizierten Wort in den Seelen der Menschen eingenistet hatten. Kirchstetten bleibt auf der musischen Landkarte Oesterreichs und der Welt.

Lore Toman, Die Tat, 19.10.1974

Auden und die Musik

In memoriam Peter Müller (1947–1993)

THE COMPOSER

All the others translate: the painter sketches
A visible world to love or reject;
Rummaging into his living, the poet fetches
The images out that hurt and connect,

From Life to Art by painstaking adaption,
Relying on us to cover the rift;
Only your notes are pure contraption;
Only your song is an absolute gift.

Pour out your presence, a delight cascading
The falls of the knee and the weirs of the spine,
Our climate of science and doubt invading;

You alone, alone, imaginary song,
Are unable to say an existence is wrong,
And pour out your forgiveness like a wine
.1

 

1 Musik im Leben
Auden, der in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1968 sagte, er habe, soweit er zurückdenken könne, immer die Musik geliebt – als Amateur,2 erfuhr die ersten prägenden musikalischen Einflüsse in der Kindheit durch seine Mutter:

Sie war musikalisch und sie regte Wystan dazu an, Klavierspielen zu lernen. Er erwies sich als hinlänglich wenn auch nicht als besonders talentiert dafür. Er hatte auch eine recht gute Sopranstimme und sang manchmal Duette mit ihr. Als er acht war, brachte sie ihm den Text und die Musik der Liebestrank-Musik aus Wagners Tristan und Isolde bei, und zusammen sangen sie dieses höchst erotische Duett, wobei Wystan die Rolle der Isolde übernahm. Sie war, sagte Wystan, als er sich daran erinnerte, manchmal „schon sehr seltsam“.3

Audens Biografen, Humphrey Carpenter und Charles Osborne, finden beide diese Konfrontation des achtjährigen Wystan mit der Musik der Oper von Wagner einer Erwähnung wert, als eine Kindheitsepisode, deren tiefenpsychologischer Gehalt auf der Hand liegt, vielleicht sogar als eine Schlüsselszene, die Audens spätere Entwicklung erklären könnte. Denn Auden selbst schreibt fast alles in seinem Charakter als Erwachsener der Beziehung zu seiner Mutter zu:

(…) seine körperliche Schwerfälligkeit (die Folge, glaubte er fest, der Förderung seiner geistigen Frühreife); seine sexuelle ,Machart‘ (in seinen Augen rührte das Feminine in ihm von der Identifikation mit seiner Mutter her); und sogar seine Intelligenz.4

Ab 1915 besuchte Auden die St. Edmund’s School in Hindhead, wo seine musikalische Ausbildung fortgesetzt wurde: er machte Fortschritte im Klavierspielen, übernahm sogar die Begleitung der Aufführung eines Volkstanzes, die hervorragend gewesen wäre, hätte der Begleiter, Auden, nicht gescheut und Reißaus genommen,5 gewann einen Preis im Klavierspiel und wurde als Leiter eines Chors lobend erwähnt.
Im Herbst 1920 wurde Auden Schüler der Gresham’s School in Holt, einer kleinen Stadt in Norfolk. Großen Einfluß, sowohl in menschlicher als auch musikalischer Hinsicht, hatte dort der Musiklehrer Walter Greatorex auf ihn. Greatorex, ein feinsinniger Musiker, (…) ein Außenseiter in Gresham’s, der angeblich nach irgendeinem kleinen, durch seine Homosexualität verursachten Skandal in einer anderen Schule dorthin gekommen war,6 verstand es, seine Liebe zur Musik und sein Wissen dem Schüler Auden zu vermitteln. Unter seiner Leitung sang Auden im Schulchor, durch ihn wurde er mit der Musik Bachs vertraut. Auden erinnerte sich an Greatorex als an den ersten Lehrer, der mich als gleichwertiges menschliches Wesen behandelte.7
Im Sommer 1925 machte Auden als Belohnung für den guten Erfolg in der Schule mit seinem Vater eine Europareise. Er kam auch nach Österreich. Um Deutsch zu lernen, verbrachte er einige Zeit bei der Familie Petzold in Kitzbühel. Mit Hedwig Petzold, der Witwe des Dichters Alfons Petzold, verband ihn eine lebenslange Freundschaft. In Salzburg besuchte er die Festspiele: bleibenden Eindruck machten auf ihn eine Aufführung von Brahms’ 2. Sinfonie und eine Marionetten-Aufführung von Mozarts Bastien und Bastienne.8
Im Herbst 1925 begann Auden das Studium in Oxford. Aus den Jahren in Oxford berichtet Osborne die Episode, wie Auden, der unter seiner Schüchternheit litt, die er entweder durch Schweigsamkeit oder provokantes Gehaben zu überspielen trachtete, anläßlich seines Geburtstages die Landarbeiter der Umgebung mit Champagner, the best bubbly,9 bewirtete, sich ans Klavier im Pub setzte und Kirchenlieder spielte.

Das ganze Leben hindurch liebte es Auden, Klavier zu spielen und er pflegte sich hinter jedes Tasteninstrument zu setzen, wo immer er eines vorfand, in der Öffentlichkeit oder privat, und Kirchenlieder hineinzudreschen, zumeist mit seinem Hut auf (in den jungen Tagen) und einer Zigarette oder eine Pfeife im Mund.10

Aber nicht nur zur Überwindung seiner Schüchternheit benützte Auden seine musikalischen Talente, sondern auch zur Belehrung und Bildung seiner Studienkollegen. Eines seiner Opfer war Cecil Day-Lewis. Zur Bildung des musikalischen Geschmacks studierte Auden mit seinem Freund Brahms’ „Vier Ernste Gesänge“ ein, die Day-Lewis am Vorabend seiner Hochzeit, unterstützt von Audens lauter, dreister, aber wunderbar unpräziser11 Klavierbegleitung, zum Vortrag brachte.
Nach Abschluß seiner Studien ging Auden für neun Monate nach Berlin. Dort hatte er, vor allem anläßlich der Uraufführung der Dreigroschenoper, Gelegenheit, Brechts Theaterarbeit kennenzulernen. Der Einfluß Brechts und des damals in Berlin noch höchst aktiven politischen Kabaretts auf Audens dichterisches Schaffen der kommenden Jahre ist deutlich.
In den dreißiger Jahren wurde Audens Beziehung zur Musik hauptsächlich durch seine Tätigkeit als Dramatiker für das Group Theatre, durch seine Mitarbeit bei der GPO Film Unit und seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Benjamin Britten bestimmt. Für das Group Theatre verfaßte Auden die Dramen The Dance of Death (1934) und, in Zusammenarbeit mit Christopher Isherwood, The Dog Beneath the Skin (1935), The Ascent of F 6 (1936) und On the Frontier (1938), zu denen Britten eine Musik schrieb, die zwar strukturell wichtig, dem Text aber untergeordnet ist. Die politische Ausrichtung des Stoffes, die Verwendung der populären Genres des Songs und der Ballade lassen die Einflüsse Brechts, des Kabaretts und Varietés erkennen.
Ab Herbst 1935 arbeitete Auden als Textautor und Mitarbeiter an mehreren Projekten für die GPO Film Unit. Er schrieb Texte zu den Filmen Coal Face (1935), Night Mail (1936), The Way to the Sea (1937) und God’s Chillun (1939), zu denen wiederum Britten die Musik komponierte.
Die Zusammenarbeit von Auden und Britten war für beide anregend, wenn auch der Einfluß Audens auf Britten größer gewesen zu sein scheint als der des um sechs Jahre jüngeren Komponisten auf den zu dieser Zeit doch schon bekannten Dichter. Audens politisches Engagement in den dreißiger Jahren, seine dezidierten Ansichten von der Funktion der Kunst in der Gesellschaft haben ihren Niederschlag in einigen Werken Brittens gefunden, z.B. in dem 1939 entstandenen Werk Ballad of Heroes nach Texten von Randolph Swingler und Auden, das dem Andenken der im Kampf für die spanische Republik gefallenen Engländer gewidmet ist.
Aber auch Auden hatte zum ersten Mal die Möglichkeit, mit einem bedeutenden Komponisten eng zusammenzuarbeiten, also Texte im Hinblick auf eine Vertonung zu verfassen. Eine Erfahrung, die sich auch auf Audens Gedichtproduktion auswirkte, vor allem in der Verwendung des Songs.

Im Jänner 1939, im Alter von 32 Jahren, kam Auden, in Begleitung seines Freundes Christopher Isherwood, in New York an. Drei Monate später verliebte er sich, zum ersten Mal in seinem Leben,12 in den 18-jährigen Chester Kallman. Nach Audens Mutter und dem Lehrer Walter Greatorex war Chester Kallman – Audens Lebensgefährte bis zum Tode – der dritte und sicher wichtigste Einfluß auf Audens Verhältnis zur Musik. Es war der in ihm durch Kallman in Gang gesetzte musikalische Bildungsprozeß, der ihn letzten Endes dazu befähigte, seinen Beitrag zum Musiktheater und zur „Theorie der Oper“ zu leisten.
Kallmans Leben war von Anfang an von der Musik, vor allem von der Oper bestimmt. Dorothy J. Farnan, deren Anliegen es ist, mit ihrem Buch Auden in Love / The intimate Story of a Lifelong Affair vor allem Kallman ein Denkmal zu setzen, schreibt über das Kind Chester:

Er war intelligent; er liebte Wörter, je länger desto besser, und er lernte lesen, bevor er 5 war. Der Mittelpunkt seines Lebens aber war der Victrola-Plattenspieler. Dr. Kallman (Chesters Vater) sammelte damals gerade populäre Klassik-Platten, und Chester, der sich schon in die Musik verliebt hatte, verliebte sich ganz und gar in Amelita Galli-Curci und konnte die Nadel genau auf der Rille der Platte aufsetzen, auf der die ihm liebste Koloratur-Passage oder Cabaletta ertönte. Sein ganzes Leben lange sollte Chester sich in Divas verlieben.13

Neben einem tiefen menschlichen Interesse war es besonders die Liebe zur Musik und zur Sprache, die Auden und Kallman verband. Im Zusammenleben beeinflußte einer den andern: so stehen Kallmans Gedichte deutlich unter dem Einfluß der Lyrik Audens, während zu Recht anzunehmen ist, daß viele Äußerungen Audens zur Musik, vor allem zur Oper, auf Anregungen Kallmans zurückgehen, der über ein größeres Wissen auf diesem Gebiet verfügte. Kallman war in späteren Jahren ein anerkannter Musikschriftsteller und Librettist, der mit eigenen Operntexten und Übersetzungen von Operntexten hervortrat. Auch Kallmans Beitrag zu den mit Auden gemeinsam verfaßten Libretti kann nicht gebührend hoch bewertet werden. Zwei Musiker, mit denen Auden und Kallman zusammenarbeiteten, bestätigen diese Meinung: Robert Craft erzählt folgende, Audens Einschätzung der Mitarbeit Kallmans illustrierende Anekdote:

(…) als Chester Kallman verhindert war, der zweiten Aufführung der Oper („The Rake’s Progress“) in Venedig beizuwohnen, verließ Wystan still das Theater vor dem Ende, da er unbedingt das Risiko vermeiden wollte, sich allein verbeugen und die Anerkennung entgegennehmen zu müssen, die seinem Freund gebührte. (…) Kallman war, zumindest auf einem Gebiet seines Schaffens, unentbehrlich für Auden: der ältere Dichter hätte niemals Librettos schreiben können ohne seinen jüngeren Kollegen. Mehr noch: bei allem, was Auden schrieb, war er auf Kallmans kritisches Urteil angewiesen.14

Und Nicolas Nabokov schreibt über die beiden Librettisten seiner Oper:

(…) er (Auden) war ein echter Liebhaber und potentieller Kenner der Oper. Und ich sage potentiell, weil das wirkliche Wissen um die Oper zu Wystan Auden durch Chester Kallman in den folgenden Jahren kam (in der Tat spielte Chester in der zukünftigen Zusammenarbeit, dessen bin ich sicher, die entscheidende Rolle):15 Erst durch Chester Kallman fand Auden Zugang zur Oper. In Worte und Noten sagt er, seine musikalische Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Beziehung zu Kallman zusammenfassend:

In meiner Jugendzeit schrieb der musikalische Geschmack in England vor, daß die Oper nicht eben als etwas Edles, Hohes anzusehen sei, sie war etwas, dem die elegante Welt nur aus rein gesellschaftlichen Erwägungen beiwohnte. (…) So ergab es sich, daß ich bis zu meinem 32. Lebensjahre keine wirkliche Anteilnahme an dem empfand, was für mich heute die faszinierendste Kunstform ist.16

Audens musikalischer Geschmack, der vor allem durch das Anhören von Platten und durch regelmäßige Besuche von Konzerten und Aufführungen der großen Opernhäuser gebildet wurde, war konservativ, und er blieb es auch bis zuletzt, trotz der Kontakte mit zeitgenössischen Komponisten. Eine im Jahr 1948 veröffentlichte Liste von Audens Lieblingsplatten17 ist aus zwei Gründen bemerkenswert: es findet sich auf dieser Liste kein Werk der reinen Instrumentalmusik, und nur zwei Werke gehören  n i c h t  zur Opernliteratur; aber auch hier ist die Auswahl erstaunlich beschränkt: Bellini, Donizetti, Mozart, Verdi, Wagner, Weber. Für Auden war das „Goldene Zeitalter der Oper“ die Zeit zwischen Glucks Orpheus und Eurydike und Verdis Othello; die Schwerpunkte innerhalb dieser Periode waren für ihn Bellini und Donizetti. Im Werk von Puccini und Strauss stellte er schon die Anzeichen für den Verfall der Oper fest.
Auden liebte es, seine Ansichten, so konservativ und reaktionär sie auch sein mochten, in Gesprächen auf provokante Weise und mit didaktischem Anspruch herauszustellen. So berichtet sein Biograf Osborne von einem Gespräch während des Besuches des amerikanischen Schriftstellers Anthony Hecht in Ischia:

Er (Auden) hielt Hecht und den anderen Gästen eine Predigt über ihren musikalischen Geschmack. (…) „Jeder, der ernsthaft vorgibt, daß seine Lieblingsmusik Beethovens letzte Quartette sind, ist einfach ein Snob, der angibt,“ (…). Musik, die auch nur im geringsten für „spirituell“ gehalten wurde, war höchst verdächtig: er war entsetzt, als er erfuhr, daß Anthony Hecht vorhatte Bachs Magnificat in Rom an einem Abend zu hören, an dem es auch eine Aufführung von Bellinis Norma geben sollte.18

(Fataler wirkte sich Audens selbstbewußt zur Schau getragener Konservativismus auf literarischem Gebiet aus. Galt er in den dreißiger Jahren noch als  d e r  moderne Lyriker, was Sensibilität, Sprache, Thematik etc. angeht, so sind seit den vierziger Jahren sein Werk und seine Gestalt der Felsen, an dem lange Zeit hindurch in England alle modernistischen Strömungen Europas scheiterten. Daß die englische Lyrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum tiefgreifende Wandlungen erfahren hat, ist zu einem Großteil auf Audens dominierenden Einfluß zurückzuführen.)

1947 wandte sich Strawinsky auf Empfehlung von Aldous Huxley an Auden mit der Bitte, für ihn ein Libretto nach einer Bildfolge des englischen Malers und Kupferstechers William Hogarth zu schreiben. Auden, dessen Erfahrung mit dem Musiktheater noch nicht allzu groß war – ein 1941 für Benjamin Britten geschriebenes Libretto war ein Mißerfolg gewesen – sagte zu. Innerhalb von 3 Monaten schrieb er, in Zusammenarbeit mit Chester Kallman, den er gegen den anfänglichen Widerstand Strawinskys hinzuzog, ein Libretto, das heute als Meisterwerk gilt.

Das war nun wirklich, und zwar ganz nach Strawinskijs Wunsch, ein richtiges Libretto mit Arien und Ensembles, Chören und Rezitativen. (…) Strawinskij schwebte eine Erneuerung des klassischen Operntypus vor, auch in seiner Musik passieren die Genien des Belcanto Revue, Mozart, Bellini, Donizetti, Verdi in strawinskijscher Verkleidung.19

Wie sehr sich Audens musikalische Vorlieben und Strawinskys kompositorische Absichten entsprachen – soweit diese in The Rake’s Progress verwirklicht wurden –, geht daraus deutlich hervor. Die Arbeit an diesem Libretto war die Grundlage, auf der Auden später seine Theorie der Oper formulierte.
Im Frühjahr 1958 kaufte Auden mit Hilfe der Tochter Hedwig Petzolds ein Bauernhaus in Kirchstetten in Niederösterreich. Drei Gründe waren für diese Wahl Audens entscheidend: es sollte ein Ort in einem deutschsprachigen Land sein, aber nicht in Deutschland, es sollte dort einen trinkbaren Wein geben und es sollte in nicht allzu großer Entfernung davon ein hervorragendes Opernhaus geben.
In Kirchstetten entstanden große Teile der Libretti für Hans Werner Henzes Opern Elegy for Young Lovers und The Bassarids. Bemerkenswert ist, wie die beiden Meisterlibrettisten20 ihre in der Zusammenarbeit mit Strawinsky gereifte, inzwischen auch in Aufsätzen theoretisch fundierte Auffassung von der Kunst des Librettoschreibens gegenüber dem wesentlich jüngeren Henze zur Geltung brachten, in welchem Ausmaß sie indirekt durch den Text des Librettos, direkt durch offen didaktische Maßnahmen auch auf den musikalischen Entstehungsprozeß der beiden Opern Einfluß nahmen.

Auden und Kallman zwangen ihn (Henze) (…) mit einem Meisterstück librettistischer Leitmotiv-Architektonik zu einer (…) Gratwanderung: (…) Sie ließen Henzes lyrisch-schwärmerischem Naturell szenenweise freien Lauf, hielten es aber durch ihre die Charaktere subtil verknüpfende Dichtung gleichzeitig in Zucht. Mit dem Libretto Elegie für Junge Liebende (1959/61) stachelten sie alle Talente Henzes, aber legten ihnen auch unnachsichtig die Kandare an.21

Noch tiefer und direkter greifen Auden und Kallman in Henzes Vorarbeiten zur Oper Die Bassariden ein:

Auden und Kallman hatten ihn (Henze) auf die Formprobleme aufmerksam gemacht, die mit der Konversion von der Oper traditioneller Gestalt zum Musikdrama für ihn zwangsläufig heraufstiegen.

Sie hatten ihn, halb scherzhaft, gezwungen, sich endlich einmal die „Götterdämmerung“ anzuhören, (…). Tatsächlich hatte Henze bis dahin die Begegnung mit dem Werk Wagners eher gemieden als gesucht. (…) Auden fand diese, einem politischen Trauma entspringende Reserve Henzes oberflächlich (…). Wie er schon Strawinsky in einem Akt nicht unwitziger Kunstpädagogik mit der Dichtung zu The Rake’s Progress auf die Scheitelhöhe des Klassizismus geführt hatte, so versuchte er es nun mit Henze ein zweites Mal – allerdings in umgekehrter Richtung.22

Auden verstand das Libretto als persönlichen Brief an den Komponisten,23 als eine persönliche Botschaft an einen bestimmten Komponisten, der durch die nur für ihn bestimmten Worte des Textes dazu stimuliert wird eine schöne, unmittelbar aus den Worten der Dichtung erwachsene Musik zu schreiben.
Nicht in den theoretischen Schriften Audens zu Musik und Oper, die lückenhaft, inkonsequent, in ihrer Tendenz zu schematisieren fragwürdig, in ihrer Abhängigkeit vom Ästhetizismus der Romantik gegenwartsfremd sind, verwirklicht sich das Musikalische in Audens künstlerischer Persönlichkeit, sondern in seiner Tätigkeit als Librettist, die er, gemeinsam mit Chester Kallman und wie vor ihm nur Da Ponte oder Hofmannsthal zu einer hohen Kunst gemacht hat.

 

2 Musik im Werk
Das bisher dargestellte, mit den Jahren durch das Leben und Arbeiten mit Kallman und die Kontakte mit Komponisten an Intensität gewinnende Verhältnis Audens zur Musik hat seinen Niederschlag im Werk des Dichters gefunden, in den eigenen Librettos, den Übersetzungen von Librettos anderer, in Aufsätzen zur Theorie der Musik und der Oper, aber auch im lyrischen Werk selbst.
In der 1956 in Oxford gehaltenen Antrittsvorlesung „Machen, Wissen, Urteilen“ stellt Auden fest:

Zum Beispiel weiß ich, daß ich durch Hören von Musik viel über die Organisation eines Gedichts gelernt habe, viel darüber, wie man durch Wechsel des Tons, Tempos und Rhythmus Mannigfaltigkeit und Kontrast hervorbringt, wenn ich auch nicht sagen könnte, wie das zuging.24

Es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, Audens Lyrik mit Hilfe einer musikalischen Terminologie auf ihre Musikalität hin zu untersuchen. Der Gebrauch des Begriffs „musikalisch“ in der literarischen Terminologie ist eher problematisch.
Die Tendenz, Analogien oder sogar Identitäten im Wesen der beiden Kunstgattungen erkennen zu wollen, ist ein Erbe des 19. Jahrhunderts, als es noch möglich schien, poetische Inhalte in der Musik und Wortmusik in der Dichtung aufzuspüren. Für E.T.A. Hoffmann etwa war das Geheimnis des Worts und des Tons eins. Und noch Mallarmé hat seine Wortkunst als eine musikalische verstanden, war sich aber schon der Tatsache bewußt, daß dieselben Begriffe – Rhythmus, Melodie, Pause, Klang etc. – innerhalb der semantischen Sphäre einen anderen Sinn besitzen als im musikalisch klanglichen Bereich. Auden war sich des Wesensunterschieds von Musik und Dichtung bewußt:

Der Mensch ist ein zur Aufdeckung von Analogien befähigtes Wesen; das ist sein großes Glück. Seine Gefahr ist es, Analogien wie Identitäten zu behandeln, zum Beispiel zu sagen: „Dichtung sollte weitgehend Musik sein“. Ich vermute, daß die Leute, aus deren Mund am ehesten solches zu hören ist, gänzlich unmusikalisch sind. Je mehr man eine andere Kunst liebt, desto weniger wird man Übergriffe auf den ihr angestammten Bezirk machen wollen.25

Nichts ist Audens dichterischen Absichten ferner als eine Musikalisierung der Sprache um des musikalischen Effektes willen. Als politisch sensibler Dichter, der  i n  seiner Zeit lebt,  m i t  seiner Zeit, nicht  g e g e n  seine Zeit, will er mit seiner Lyrik, deren Themenvielfalt außerordentlich ist – Liebe, Natur, Psychologie, Politik, Sozialkritik, Religion etc. –, den einzelnen Leser in einer verständlichen Sprache anreden, ihn derart veranlassen, sich mit der im Text behandelten Thematik als einer Problematik auseinanderzusetzen.
Dieser von Anfang an ideologisch begründete Wille zur Breitenwirkung der Dichtung äußert sich am deutlichsten in Audens Verwendung des Songs.
Das Wesen des Songs besteht in seinem Anspruch auf Popularität. Es wird zwischen zwei Arten von Songs unterschieden: dem „popular song“, der entweder zu einer schon vorhandenen Musik geschrieben worden ist oder durch seine Eigenart ein bestimmte Musik evoziert – zu diesem Typus gehören die Songs in Audens Dramen aus den dreißiger Jahren – und dem „art song“, einem Text, der entweder dazu bestimmt ist oder geeignet ist, vertont zu werden.
Eine ganze Reihe von Komponisten haben solche „art songs“ von Auden vertont: Britten, Richard Rodney Bennett, Luciano Berio, Lennox Berkeley, Sir Arthur Bliss, Lukas Foss, Elisabeth Luytens, Wilfried Mellers und andere.

Audens musik- und operntheoretische Äußerungen finden sich verstreut in Aufsätzen und Rezensionen, die zum Teil in die Essaysammlungen The Dyer’s Hand (1963), Forewords and Afterwords (1973) und Secondary Worlds (1968) aufgenommen wurden. Von grundlegender Bedeutung ist der 1951 veröffentlichte Aufsatz „Some Reflections on Opera as a Medium“ der umgearbeitet, erweitert, unter anderen Titeln im Laufe der Jahre in verschiedenen Zeitschriften erschien und schließlich in einer endgültigen Fassung in „Homage to Igor Stravinsky“ in The Dyer’s Hand abgedruckt ist.
Eine weitere Quelle für Audens Musik- und Opernverständnis ist die 1968 bei den Salzburger Festspielen gehaltene Festrede, die sich im wesentlichen auf die früher verfaßten Aufsätze stützt. Einigen Aufschluß geben auch die in „Forewords and Afterwords“ abgedruckten Rezensionen einer Biografie Richard Wagners, einer Ausgabe der Briefe Verdis und einer englischen Ausgabe des Briefwechsels zwischen Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal. Audens essayistische Schriften, von denen nur ein Teil bisher veröffentlicht ist – Edward Mendelsohn spricht von 400 Aufsätzen, Rezensionen, Vorwörtern etc., deren Herausgabe geplant ist26 – sind Auftragswerke. Ich schrieb sie, weil ich das Geld brauchte,27 sagte Auden selbst, denn:

Ein betrüblicher Umstand unserer Zivilisation bringt es mit sich, daß ein Dichter mehr verdient, wenn er sich schreibend oder sprechend über seine Kunst ausläßt, als wenn er sie ausübt.28

In den dreißiger Jahren hatte Auden Theaterstücke geschrieben, in denen die dafür komponierte Musik eine untergeordnete, illustrierende Aufgabe hatte; er hatte lyrische Texte verfaßt, die für die Vertonung bestimmt waren oder sich dafür eigneten, die aber auch ohne Musik ihren künstlerischen Eigenwert hatten.
Ab 1940 beschäftigte sich Auden mit der Gattung des Librettos, also mit der dramatischen Form, die zur Vertonung bestimmt ist, die der Vervollständigung durch die Musik bedarf.
Audens erstes, ohne Kallmanns Mitarbeit verfaßtes Libretto war Paul Bunyan, das er 1940/41 für Britten schrieb. Die Oper war auch Brittens erstes Bühnenwerk. Nach einer Aufführung im Jahr 1941 an der Columbia Universität geriet das Werk in Vergessenheit. Es wurde erst wieder nach Audens Tod, 1976 und 1978, aufgeführt.
Audens zweites Libretto, das in Zusammenarbeit mit Kallman entstand, war The Rake’s Progress. Damit begründeten er und Kallman ihren Ruf als Meisterlibrettisten. Die Uraufführung fand 1951 in Venedig statt.
1953 schrieben Auden und Kallman das Libretto Delia, or a Masque of Night nach dem Drama The Old Wives’ Tale von George Peele. Es war für Strawinsky bestimmt, wurde aber nicht von ihm, sondern angeblich von Lennox Berkeley29 vertont.
Für Hans Werner Henze schrieben Auden und Kallman zwei Libretti: das erste Elegy for Young Lovers war 1959 fertiggestellt. Die Oper wurde 1961 in deutscher Sprache in Schwetzingen und im selben Jahr in der Originalfassung in Glyndebourne aufgeführt. Das zweite Libretto The Bassarids, eine Opera Seria nach den „Bacchanten“ des Euripides, lag im Sommer 1963 vor. Henze schloß die Komposition 1965 ab. Die Aufführung der Oper fand 1965 bei den Salzburger Festspielen statt.
Audens und Kallmans letztes Libretto ist eine Bearbeitung von Shakespeares Love’s Labour’s Lost, zu dem Nicolas Nabokov die Musik schrieb. Die Oper wurde vom Berliner Opernensemble im Rahmen eines Gastspiels 1973 in Brüssel aufgeführt.
Ein weiteres Gebiet von Audens musikbezogenem Schaffen sind seine in Zusammenarbeit mit Kallman entstandenen Übersetzungen von Opernlibretti. Für Fernsehproduktionen übersetzten sie 1956 Die Zauberflöte; 1960 Don Giovanni, für eine Aufführung in der New York Town Hall 1965 Goldonis Libretto zu Dittersdorfs Oper Arcifano, King of Fools, or: It’s Always too Late to Learn.
Nicht unerwähnt sollen Audens und Kallmans Übersetzungen der Libretti The Seven Deadly Sins of the Lower Middle Class (1959) und The Rise and Fall of the City of Mahagony von Brecht bleiben, von denen Hannah Arendt sagte:

Bis zu diesem Tag ist das die einzige angemessene Übertragung Brechts ins Englische.30

 

3 Musik in der Theorie
Auden war kein Musiker. Er war Dichter. Er liebte die Musik, aber als Amateur. Seine Äußerungen zur Musik sind nie die des theoretisch gebildeten und praktisch ausgebildeten Fachmanns, sondern die des Dilettanten. Um seine Auffassung vom Wesen der Musik darzulegen, bedient sich Auden der Methode des Vergleichs: er stellt die Musik der Dichtung, der bildenden Kunst, der Filmkunst gegenüber:

Eine verbale Kunst, wie die Dichtung, ist reflexiv; sie hält inne, um sich zu besinnen. Musik ist unmittelbar, sie schreitet voran, will sich auswachsen. Beide sind aktiv, beide insistieren entweder auf dem Innehalten oder auf dem Voranschreiten. Das Medium der passiven Reflexion ist die Malerei, der passiven Unmittelbarkeit die Filmkunst, denn die visuelle Welt ist eine unmittelbar gegebene, (…).31

Unmittelbarkeit ist also für Auden das wesentliche Kriterium der Musik, Reflexion hingegen das der Dichtung. Beide, sowohl Dichtung als auch Musik, sind aktiv, insofern als die Musik vom Prinzip des Voranschreitens, die Dichtung vom Prinzip des Innehaltens bestimmt ist. Ihrem Wesen nach passiv sind die bildende Kunst und die Filmkunst, und zwar erstere reflexiv passiv, letztere unmittelbar passiv. Unmittelbarkeit ist das der Filmkunst und der Musik gemeinsame Kriterium: so wie die Reihung einzelner Töne, die unmittelbar aufeinanderfolgend einander bedingen, zur Melodie wird, so fügen sich, innerhalb eines zeitlichen Ablaufs, die einzelnen Bilder eines Films zum sinnvollen Ganzen. Reflexion ist das gemeinsame Kriterium von Dichtung und bildender Kunst: beide gestatten dem Lesenden oder dem Betrachtenden, überlegend innezuhalten.
In diesem Schema läßt Auden aber Möglichkeiten der angeführten Kunstgattungen außer acht, die ihm, dem musikalischen Laien, zwar irrelevant erscheinen, aber doch bekannt gewesen sein müssen. Denn zum einen kann und muß Musik auch gelesen werden – für den Interpreten, den Komponisten ist die Fähigkeit, Musik zu  l e s e n, d.h. mit dem inneren Ohr zu hören und so in der Vorstellung klanglich zu realisieren, eine unabdingbare Voraussetzung –, zum anderen kann und muß Dichtung ja auch gehört werden – d.h. eine wesentliche Dimension von Dichtung besteht darin, in einem Akt des lauten Lesens Laut und Klang zu werden.
(Ob die Ursache für Audens sich autoritär und logische gebärdende, aber lückenhafte Argumentation in einer Haltung zu suchen ist, die sich stillschweigend mit der Tatsache abfindet, daß unsere literarische Kultur fast gänzlich zu einer Lesekultur degeneriert ist, wäre zu klären.)
Bildende Kunst und Film, in Audens Schema passive Künste, sind ihrem Wesen nach statisch, d.h. die Möglichkeiten der Interpretation durch den Betrachter sind durch die schon vorhandenen Formen und Bilder eingeschränkt. Wie in der bildenden Kunst und im Film fühlt sich Auden auch in der Wortkunst eingeschränkt: er spricht von der dynamischen Natur32 der Musik und stellt die Begriffe der musikalischen Phrase und der verbalen Feststellung33 gegenüber, also die Unbestimmtheit, alle Möglichkeiten der Wahl offen lassende Eigenart der Musik und das definitiv ein für alle Mal Feststellende der Sprache.
Auch diese Einsicht in das Wesen der Musik ist fragwürdig; denn hier kategorisiert wieder der Dichter Auden aus dem Bewußtsein und aus dem Wissen heraus, im System der Sprache, ihrer Grammatik, ihrer Idiomatik etc. eingesperrt zu sein, ohne sich Rechenschaft darüber ablegen zu wollen oder zu können, in welchem Ausmaß die Musik seit jeher von Systemen, Formen und Formeln geprägt war und ist.
In dem Aufsatz „Music in Shakespeare“ versucht Auden, ohne Hilfe von Vergleichen mit anderen Kunstgattungen, eine Definition der Musik:

Wenn wir (…) von der Musik als einer Kunst sprechen, so wollen wir damit sagen, daß in ihr die Elemente des Tones und Rhythmus zur Bildung einer Klangstruktur verwandt werden, die um ihrer selbst willen anzuhören ist. Auf die Frage, worum es in solcher Musik „gehe“, erscheint mir die Antwort nicht gar zu abwegig, sie biete ein wesensmäßiges Bild unserer Lebenserfahrung als einer zeitlichen, mit deren doppeltem Aspekt des Werdens und des Wiederkehrens.34

Zum zweiten Teil dieser Definition findet sich in den Gesprächen Strawinskys mit Robert Craft eine bemerkenswerte Äußerung, die die Haltung des musikalischen Fachmanns gegenüber derartigen Aussagen zeigt:

Wenn Musik für mich „ein Bild unserer Lebenserfahrung als einer zeitlichen“ ist (und ist es auch nicht nachweisbar, so nehme ich einmal an, daß es so ist), ist meine Feststellung das Resultat einer Überlegung und als solches unabhängig von der Musik selbst. Aber diese Art des Nachdenkens über Musik geht für mich in eine ganz andere Richtung: ich kann damit als eine Wahrheit nichts  t u n, und meine Absicht ist es, etwas zu t u n. Auden meint die Musik des „Westens“ (…); die Jazzimprovisation ist die Auflösung des Zeit-Bildes, und wenn ich die Begriffe„ Wiederkehr“ und „Werden“ richtig verstehe, so wird ihre Erscheinung in der seriellen Musik doch sehr verringert. Audens „Bild unserer Lebenserfahrung als einer zeitlichen“ (was ja auch ein Bild ist), ist losgelöst von der Musik.35

In seiner Rede Worte und Noten umschreibt Auden das Wesen der Musik mit Hilfe grammatikalischer Kategorien. Er faßt Musik als Sprache auf:

Um nichts weniger als der sprachliche Ausdruck können Musik und Malerei gerechtermaßen als Sprache angesehen werden, umsomehr, als wir sie auch als Mittel willkürlicher persönlicher Eröffnung und persönlichen Erfahrungsaustausches benützen, (…). (…) Jede Sprache jedoch besitzt die ihr eigentümliche Grammatik. (…) Alle musikalischen Äußerungen sind, sozusagen, intransitiv, nichtzielend, in der ersten Person gesetzt, Einzahl oder Mehrzahl, und Praesens Indikativ.36

Musik richtet sich an keinen bestimmten Adressaten; der Komponist, der oder die Ausführende(n) drücken sich selbst aus; das, was sie zum Ausdruck bringen, ist wahr und aktuell.
Die Grammatik der Wortkunst mit der der Musik vergleichend, stellt Auden zwar Vorteile fest: drei Personen, als Zeiten Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, sowohl aktive als auch passive Form,37 aber auch schwerwiegende Nachteile:

Letztlich mangelt ihr (der verbalen Ausdrucksweise) der Indikativ, denn in Worten, und nur in Worten können wir lügen. Jede verbale Aussage ergeht letztlich im Konjunktiv, es ist alles nur in einem Wahrscheinlichkeitsgrade wahr, solange bis es durch außersprachlichen Beweis verifiziert wird – was nicht immer möglich ist.38

Audens Anschauungen vom Wesen der Musik sind deutlich der Ästhetik des 19. Jahrhunderts verpflichtet. In den vierziger Jahren hatte Auden begonnen, sich intensiv mit dem Christentum, unter anderem auch mit dem Werk Kierkegaards, auseinanderzusetzen. 1944 schrieb er in einer Rezension einer Übersetzung von Kierkegaards Entweder – Oder:

Kierkegaards Aufsatz über die Musik ist der einzige erhellende Vorschlag für eine Musikästhetik, den ich kenne.39

Im ersten Teil des 1843 erschienenen Werks Entweder – Oder versucht Kierkegaard eine Analyse von Mozarts „Don Giovanni“ zu geben, unter dem Titel: „Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische“.
Kierkegaards Methode ist der Audens überraschend ähnlich: er vergleicht die Musik mit den anderen Künsten, stellt das konkrete Medium der Sprache den abstrakten Medien der Baukunst, Bildhauerei und Musik gegenüber. Auch der Begriff der Unmittelbarkeit ist für Kierkegaards Überlegungen wesentlich:

Die Musik drückt (…) stets das Unmittelbare in seiner Unmittelbarkeit aus; (…). In der Sprache liegt die Reflexion; und darum kann die Sprache das Unmittelbare nicht aussagen. Die Reflexion tötet das Unmittelbare, und darum ist es unmöglich, in der Sprache das Musikalische auszusagen, (…).40

Auch für Kierkegaard ist die Musik eine Sprache:

Ein Medium (…), das geistig bestimmt ist, ist wesentlich Sprache, und da nun die Musik geistig bestimmt ist, hat man sie mit Recht eine Sprache genannt.41

Wie Auden geht Kierkegaard bei Aussagen über das Wesen der Musik von der Voraussetzung aus, daß Musik nur in dem Augenblick existiere, in dem sie vorgetragen werde, denn es sei nicht zu leugnen, daß die Musik, indem sie gelesen werde, nur im uneigentlichen Sinne da sei.42
Auden hatte, wie aus vielen seiner Aussagen hervorgeht, eine sehr hohe Meinung von der Kunst des Gesangs. In Worte und Noten sagt er:

Die Gabe, gut zu singen, ist so außergewöhnlich, daß dies den Sänger zu einer außergewöhnlichen Person macht, (…): das heißt, die sängerische Darbietung (…) ist genus grande.43

Der Gesang, als virtuose Kunst verstanden, macht die Oper selbst zur hohen Kunst. Die Worte spielen in der Oper eine untergeordnete Rolle; die Musik erhebt sie auf die Ebene des hohen Stils:

Wenn Sie mich fragen, warum ich in meinem späteren Leben dazu kam, die Oper als eine Kunstform zu betrachten, der ich als Poet einen professionellen Beitrag leisten könnte, würde ich antworten, das ist deswegen geschehen, weil in unserer Zeit die Oper die einzige Kunstgattung ist, die in ihrem sprachlichen Ausdruck noch dem hohen oder erhabenen Stil offen ist.44

Auden, der sich die Liebe zum hohen Stil bewahrt hat,45 sieht in unserer Zeit keine Möglichkeit mehr, diesen in der Dichtkunst zu verwirklichen:

Wenn je ein moderner Dichter seine Stimme erhöht, wirkt er unwahr wie ein Mann, der hohe Schuhabsätze trägt.46

Was allerdings ,Hoher Stil‘ für Auden bedeutet, wird aus seinen Ausführungen nicht ganz klar. Gesang, für Auden die Verkörperung des hohen Stils, und Wort gegenüberstellend, sagt er:

Wenn ich einem Mädchen die Worte sage: „Ich liebe dich“, wende ich mich vor allem an sie. Wenn ich die gleichen Worte singe, auch in ihrer Gegenwart, ist es weniger das Mädchen, an das ich mich wende, als die ganze Welt. Singen ist eine Form öffentlicher Impulsäußerung, ein „Aufschrei“; (…)47

Publikum, also Öffentlichkeit, scheint eine Voraussetzung für diesen hohen Stil zu sein.
Die Oper als Manifestation des hohen Stils gehört für Auden zu einem Kunstbereich, den er ,Secondary World‘ nennt:

Eine Sekundärwelt muß ihr Baumaterial aus der Primärwelt beziehen, aber sie kann nur das Material aufnehmen, das wiederzusammenzusetzen und zu verwandeln ihr Schöpfer in der Vorstellung in der Lage ist.48

Eine ,Sekundärwelt‘ ist also eine Kunstwelt, die aus Elementen der Alltagswelt, der Primärwelt, zusammengesetzt ist, die der Künstler, entsprechend seinem Können und seinen Absichten, in neue Beziehungen zueinander setzt und umgestaltet.
Diese Gegenüberstellung von ,Sekundärwelt‘ und ,Primärwelt‘ entspricht der Unterscheidung, die Kierkegaard in Entweder – Oder zwischen der ästhetischen und der ethischen Ebene trifft. Bedeutung hat diese Unterscheidung für Auden vor allem hinsichtlich der Wahl des Stoffes für ein Libretto, der gekennzeichnet sein soll durch historischen Abstand zur Gegenwart, durch Allgemeingültigkeit der Aussage, durch Typisierung der Charaktere – Voraussetzungen, die Auden besonders in der Welt der Mythen findet.
Die faszinierendste Kunstform war für Auden die Oper, einerseits durch die Möglichkeit der Breitenwirkung – Voraussetzung dafür ist die aktuelle, allgemein verständliche, also universale Aussage –, andererseits durch den Gesang, der durch seine Virtuosität die Oper in den Rang der hohen Kunst erhebt.
Ein zusätzlicher Reiz lag für ihn sicher auch in der historisch bedingten Herausforderung, diese Kunstgattung, deren ,Goldenes Zeitalter‘ vorbei war, durch neue Impulse, neue Konzepte, neue Beispiele zu bereichern.

Der Bereich der Oper, in dem Auden, der Dichter, einen Beitrag leisten konnte, war das Libretto. Er war sich der Tatsache bewußt, daß das Schreiben eines Librettos den Dichter in seinen Möglichkeiten einschränkt, denn der Text der Oper ist der Musik untergeordnet. Auden wehrte sich auch – in der Theorie –, dichterisch anspruchsvolle Operntexte zu schreiben, da in der Oper die Wörter von geringster Wichtigkeit sind, (…) denn der Opernbesucher hat Glück, wenn es ihm gelingt, mehr als eines von acht zu verstehen. Der Text wird nicht nach irgendeinem poetischen Wert beurteilt, der ihm innewohnen mag, sondern nach seinem Erfolg oder Mißerfolg, die musikalische Imagination des Komponisten anzureizen. Ich bin gleichwohl der Überzeugung, daß die schöpferische Phantasie eines Tonsetzers eher durch gute Dichtung als durch schlechte beflügelt wird, (…).49

In der Praxis haben Auden und Kallman sehr wohl bewiesen, daß ein Libretto von höchster dichterischer Qualität sein kann.

4
In seiner Autobiografie zitiert Nicolas Nabokov, der Komponist von einem der Librettos Audens, Lincoln Kirstein, den Gründer des New York Balletts, der zu ihm sagte:

Wystan muß deine Musik gefallen, besonders weil sie melodisch ist und weil sie keinen Modetorheiten unterworfen ist (…).50

Diese Bemerkung beschreibt treffend Audens musikalischen Geschmack.
Auden lehnte die Musik seiner Zeit, vor allem die experimentelle, ab; er wollte eine klangvolle, melodiöse Musik. Die Verwirklichung seiner musikalischen Vorstellung fand er, ein für alle Mal, in der Belcanto-Oper, der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts. Der Widerspruch, der darin zu liegen scheint, daß Auden dennoch mit zeitgenössischen Komponisten zusammenarbeitete, ist ein scheinbarer, denn Brittens Kompositionsstil, der durch melodiöse, sangbare Thematik und Klarheit der Form gekennzeichnet ist, Strawinskys Musik zu The Rake’s Progress, die das Ende seiner neoklassischen Periode markiert, in der er sich an der Nummernoper des 19. Jahrhunderts orientiert, ja sogar Henzes Musik, die damals, zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit mit Auden und Kallman von seinem Italienerlebnis und dem Studium Rossinis, Bellinis und Verdis geprägt war, kamen den Vorstellungen Audens von der Musik weitgehend entgegen. Obwohl Osborne, über Elegy for Young Lovers sprechend, anmerkt:

Auden redete von der Oper als „Allergie für Junge Liebende“, da das der Titel war, mit dem das Manuskript von der Person, die es ins Reine geschrieben hatte, versehen worden war; innerhalb weniger Jahre sprach er zumeist über diese Arbeit zu Freunden so, als ob er selber allergisch dagegen wäre.51

Nichts in Audens Überlegungen zur Musik findet sich zur Krise der europäischen Musik im 20. Jahrhundert, zu den Versuchen seiner Zeitgenossen, den Prozeß der Versubjektivierung der Musik, der Verselbständigung als Illusion, der Herauslösung aus der Ganzheit des Lebens in den Griff zu bekommen, nichts von einer Kritik des Virtuosen, dieser fatalen Degeneration des Musikers. Ganz im Gegenteil, Auden, selbst ein Virtuose der Sprache, wird nicht müde, immer wieder die Virtuosität des Gesangs zu feiern, auch er, der politisch so sensible Künstler, unterliegt bereitwillig dem, von platter Kalkulation bestimmten Geschick der Virtuosen, die Massen von der Bühne her zu erregen, zu berauschen. Audens Verhalten zur Musik, ganz im Gegensatz zu dem zur Dichtkunst, war nicht vom Verstand, vom Intellekt bestimmt, sondern vom Instinkt, von Naivität.
Für Auden, den Mann aus gotischem Norden, das blasse Kind der Kartoffel-, Bier- und Whisky-Schuldkultur, der, wie seine Väter, südwärts ins sonnverbrannte Anderswo aus Weingärten, Barock, „la bella figura“ fuhr, in feminine Städte, wo Männer maskulin sind, Geschwister ungeübt im grausamen Spiegelfechten, dem Lehrstoff protestantischer Pfarrhöfe an verregneten Sonntagnachmittagen,52 für ihn war die Musik ein ,Anderswo‘, ein Arkadien, ein Italien oder das, was den Künstlern des 18. und 19. Jahrhunderts eben Italien bedeutete: ein Land der Sehnsucht.
In der Musik glaubte er verwirklicht, was er, der Sprachkünstler, in seinem Werk nur zum Teil oder gar nicht verwirklichen zu können glaubte: Unmittelbarkeit, Spontaneität, Unverstelltheit, Emotionalität, Dynamik, Wahrhaftigkeit, direkten Lebensbezug, hohen, erhabenen Stil…

Hans Raimund, in: W.H. Auden 1907–1913. Ergebnisse eines Symposiums, St. Pölten 1988

 

AUDEN IN KIRCHSTETTEN

Im Hinterholz. Als schlappte er in Pan-
Toffeln aus dem Hotel auf den Asphalt, in Berlin
oder Manhattan.

Mann von Gnade. Schlechte Haut.
Mit dem Gesicht eines Rugbyspielers
feinsinnig, traurig, und hart.

Chester war 18, als es anfing. Der Sekretär
tippt die Zeilen. Die Körper wechseln, roh
und verletzlich. Das Offene bleibt, zu verstehen.

Hinterholz Nr. 6. Letztes Haus vor dem Wald
Wienerwald. Drei nahe Gründe: die Stricher, ein Opern-
Haus, und der grüne Wein.

Wenn er durchs Dachfenster schaute, waren da
Büsche mit den Hortensien, ein Zuwachsen
das Verwuchern als mögliche Antwort.

Die Haushälterin kutschiert ihn herum in seinem
grauen VW-Käfer, nach dem Unfall. Noch einen Sommer
oder zwei. Wenn ich es sagen könnte, ich würde

es sagen. Die Autobahn rauscht lärmig, sechsspurig
nach wohin –. Nachts kommen Rehe in den Garten
und Auden wartet.

Tom Schulz

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Georges Albert Astre: Zum dichterischen Werk von W.H. Auden, Merkur, Heft 27, Mai 1950

Hannah Arendt: Ich erinnere an Wystan H. Auden, Merkur, Heft 485, Juli 1989

Tom Schulz: Im Wienerwald fand der Dichter W.H. Auden sein Altersrefugium, und ein VW-Käfer wurde ihm fast zum Verhängnis

Das Zeitalter der Angst – Wystan Hugh Auden

Timo Frühwirth, Sandra Mayer: W.H. Auden in Kirchstetten: Selbsterfindung und überraschende Netzwerke
Der Standart, 10.11.2022

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Hannes Stein: Ein Ruhmeslied für W.H. Auden und seine Verse
Berliner Morgenpost, 20.2.2007

Die Wahrheit mit eigenen Augen
Die Welt, 21.2.2007

Jens Brüning: Marx und Freud zum Vorbild
Deutschlandfunk Kultur, 21.2.2007

Erich Klein: Wenn die Nacht am tiefsten ist: W.H. Auden
Der Standart, 17.2.2007

Rüdiger Görner: Denkspiele im Zauberkreis der Sprache
Neue Zürcher Zeitung, 17.2.2007

Andreas Brunner: Die Poesie kann nichts bewirken
Wiener Zeitung, 16.2.2007

Daniela Strigl: „Stop all the clocks“
Die Furche, 15.2.2007

Zum 50. Todestag des Autors:

Kurt Leutgeb: W.H. Auden, Wahl-Kirchstettner und Weltliterat
Der Standart, 24.9.2023

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb + ÖM + KLfG +
MAPS 1, 2 & 3 + Nachlass + Internet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Wystan Hugh Auden: Tat ✝︎ Merkur ✝︎ Tumba

 

Wystan Hugh Auden liest sein Gedicht „Zum Gedenken an W.B. Yeats“.

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