Jean Starobinski: Zu Charles Baudelaires Gedicht „Le Cygne / Der Schwan“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Charles Baudelaires Gedicht „Le Cygne / Der Schwan“ aus Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Umdichtungen von Stefan George. 

 

 

 

 

 

CHARLES BAUDELAIRE

Der Schwan
An Victor Hugo

1

Andromache · deiner gedenk ich! das flüsschen bescheiden
Und ärmlich – es spiegelte ehdem in seinem schooss
Die mächtige trauer deiner wittwenleiden:
Der trügende Simoïs durch deine thränen nun gross

Ist plötzlich in mein fruchtbar gedächtnis gedrungen
An jenem tag auf dem neuen Carrousel ..
Die Stadt wird mir fremd vor lauter veränderungen.
Ein menschenherz ach! verändert sich nicht so schnell.

Ich sehe nur noch im geiste die vielen baracken
Begonnene säulen und fässer am boden umher
Vom wasser der pfützen grün überzogene wacken
Und durch die fenster ein trödel kreuz und quer.

Dort war eine schaubude seltener tiere gewesen ·
Dort kam mir entgegen in kaltklarer morgenzeit
Wo wieder die arbeit erwacht und die rotte der besen
Zum stillen himmel verderbliche dünste speit:

Ein schwan – der fliehend seinen käfig verlassen ·
Mit flossigem fusse das trockene pflaster rieb ·
Das weisse gefieder zog auf den holprigen gassen
Und vor einem bach ohne wasser stehen blieb.

Er badete zitternd in dem staub seine schwingen
Und sprach im gedanken ans blaue heimatgefild:
Wann triffst du mich · blitz! wann wirst du mich · wolke · verschlingen!
Ich sah den elenden · unheilvoll seltsames bild ·

Zum himmel oft · wie der mann in Ovidi gedichten ·
Zum blauen himmel der lächelt mit grausamem spott
Auf zuckendem halse den kopf in die höhe richten
Als wende er sich in bittrem vorwurf an Gott.

 

2

Paris wird anders · doch meine betrübnis zu mildern
Vermag keine ändrung · gerüst und neuer palast
Und alte vorstadt – alles erscheint mir in bildern
Und meine erinnrungen wiegen wie bergeslast.

Vorm Louvre · wo ein bild mich erschütterte · dachte
Ich an meinen grossen schwan der vorüberschlich
Wie irr und wie die verbannten – erhabne verlachte
Und ewig von sehnsucht zernagte – und dann an dich ·

Andromache der man den grossen gatten entzogen ·
Dem stolzen Pyrrhus wurde als beute dein leib ·
Du über ein leeres grab in verzückung gebogen ·
Du witwe des Hector ach! und des Helenus weib.

Ich denke der negerin zehrung-erkrankt und hager:
Sie watet im schmutze und sucht mit fahlem gesicht
Der strahlenden Afrika glückliche palmenlager
Weit hinter den schranken sich türmender nebelschicht –

Und derer die sich um unwiederbringliches kränken
Das nie .. nie .. und derer die schöpfen am thränenteich ·
Am schmerz wie an einer gütigen wölfin sich tränken ·
Der mageren waisen die welken den blumen gleich.

Im walde worin mein geist in verbannung gesessen
Ertönt eine alte erinnrung mit markigem schall!…
Ich denke an schiffer auf einsamer insel vergessen
Und an die gefangnen · besiegten … und anderen all!

Übersetzung: Stefan George

 

Le Cygne
A Victor Hugo

I

Andromaque, je pense à vous! Ce petit fleuve,
Pauvre et triste miroir où jadis resplendit
L’immense majesté de vos douleurs de veuve,
Ce Simoïs menteur qui par vos pleurs grandit,

A fécondé soudain ma mémoire fertile,
Comme je traversais le nouveau Carrousel.
Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville
Change plus vite, hélas! que le coeur d’un mortel);

Je ne vois qu’en esprit tout ce camp de baraques,
Ces tas de chapiteaux ébauchés et de fûts,
Les herbes, les gros blocs verdis par l’eau des flaques,
Et, brillant aux carreaux, le bric-à-brac confus.

Là s’étalait jadis une ménagerie;
Là je vis, un matin, à l’heure où sous les cieux
Froids et clairs le Travail s’éveille, où la voirie
Pousse un sombre ouragan dans l’air silencieux,

Un cygne qui s’était évadé de sa cage,
Et, de ses pieds palmés frottant le pavé sec,
Sur le sol raboteux traînait son blanc plumage.
Près d’un ruisseau sans eau la bête ouvrant le bec

Baignait nerveusement ses ailes dans la poudre,
Et disait, le coeur plein de son beau lac natal:
„Eau, quand donc pleuvras-tu? quand tonneras-tu, foudre?“
Je vois ce malheureux, mythe étrange et fatal,

Vers le ciel quelquefois, comme l’homme d’Ovide,
Vers le ciel ironique et cruellement bleu,
Sur son cou convulsif tendant sa tête avide
Comme s’il adressait des reproches à Dieu!

 

II

Paris change! mais rien dans ma mélancolie
N’a bougé! palais neufs, échafaudages, blocs,
Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie
Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs.

Aussi devant ce Louvre une image m’opprime:
Je pense à mon grand cygne, avec ses gestes fous,
Comme les exilés, ridicule et sublime
Et rongé d’un désir sans trêve! et puis à vous,

Andromaque, des bras d’un grand époux tombée,
Vil bétail, sous la main du superbe Pyrrhus,
Auprès d’un tombeau vide en extase courbée
Veuve d’Hector, hélas! et femme d’Hélénus!

Je pense à la négresse, amaigrie et phtisique
Piétinant dans la boue, et cherchant, l’oeil hagard,
Les cocotiers absents de la superbe Afrique
Derrière la muraille immense du brouillard;

À quiconque a perdu ce qui ne se retrouve
Jamais, jamais! à ceux qui s’abreuvent de pleurs
Et tètent la Douleur comme une bonne louve!
Aux maigres orphelins séchant comme des fleurs!

Ainsi dans la forêt où mon esprit s’exile
Un vieux Souvenir sonne à plein souffle du cor!
Je pense aux matelots oubliés dans une île,
Aux captifs, aux vaincus!… à bien d’autres encor!

 

Melancholie und Spiegelbild 

– Eine Lektüre von Baudelaires „Le Cygne“. –

Für Max Milner

Aristoteles hat, auf dem Wege über Marsilio Ficino, zur Definition des Melancholikers als einer Gestalt beigetragen, die sich, mehr als jeder andere, zu den höchsten Gedankenhöhen zu erheben vermag. Aber wenn die schwarze Galle, wie heiß sie auch aufgewallt sein mag, wieder erkaltet, löst sie die tiefsten Mattigkeiten aus. Es genügt, der ikonologischen und literarischen Tradition Aufmerksamkeit zu schenken: Es ist der Melancholiker, dessen Geist sich in der Ekstase der einheitssuchenden Intuition zum Himmel aufschwingt; es ist wiederum der Melancholiker, dessen brütender Kummer in der Erstarrung und Stumpfheit der Verzweiflung die Einsamkeit, die Reglosigkeit sucht.
Aufschwung und Schlaffheit: es kommt vor, daß dieses doppelte seelische Vermögen einem und demselben Individuum eigen ist, so als ob einer dieser Extremzustände immer nur durch den anderen, um den Preis des anderen existierte. Die Tradition ist gerade hier noch reich an Beispielen. Und die Hinweise, die sie gibt, bewirken eine Verschmelzung der Zeichen der sterilen Traurigkeit mit denen der fruchtbaren Meditation. Sie legt manchmal einen Mischzustand nahe, der weder die niedergeschlagene Mattigkeit noch der Elan der Begeisterung ist, sondern der inspirierte Ernst, der gedankenversunkene Genius. Daher dann die vielfältigen Bedeutungen, mit denen in der bildenden Kunst die Haltung des gebeugten, mit in die Hand gestütztem Kopf dasitzenden Wesens assoziiert werden kann. Die Künstler wußten, daß sie mit dieser Gebärde alle Zustände bezeichnen konnten, in denen der Körper präsent und der Geist abwesend ist.
Melancholische Personen, Allegorien der Melancholie: wenn wir sie zu einem Bildband zusammenstellten, so ergäbe das eine stetige Folge in sich versunkener und nachdenklicher Gestalten. Man möchte meinen, daß die Dichter und Künstler eine psychologische Mehrdeutigkeit wahrnehmen und darstellen konnten, deren Spuren sich auch in den etymologischen Ableitungen des Französischen aus dem Lateinischen auffinden lassen. Pencher [(sich) neigen, beugen] ist aus pendicare [herabhängen] entstanden, einem Frequentativum von pendere [(auf-)hängen]. Penser [denken] stammt, auf dem Wege über pensare [abwägen], von pensum ab, dem Partizipium Perfecti von pendere. Zwar sollte etymologischen Genealogien nicht allzuviel Aufschluß zugetraut werden. Ich mag eigentlich kaum mit Etymologien argumentieren. Das Wortspiel ist, im Bereich einer gegebenen natürlichen Sprache, eine Gefahr für die Philosophie, selbst wenn der Weg der Erkenntnis über die Vermählung von Merkur und Philologie verläuft. Eine andere Sprache besitzt kein Äquivalent dafür. Im vorliegenden Falle handelt es sich, angesichts der Gestalt, die der undarstellbaren Melancholie zugeschrieben wird, um Bilder: die freien Ableitungen verbaler Formen sind nicht ganz unangemessen…
Worüber neigen sich diese Bilder also? Manchmal über die Leere oder über die Unendlichkeit der Fernen. Manchmal über andere Bilder, in denen der Geist den Spuren des Geistes, dem Reflex seiner selbst begegnet. Folianten oder Zauberbücher, geometrische Figuren, Zahlen, die ihre Geheimnisse nur schwer preisgeben. Oder Spiegel, Becken, Wasserflächen. Oder gar, wenn die Schwermut überwiegt, Ruinen, Wasseruhren, Schädel, Spuren der Zerstörung an den zerbröckelnden Monumenten der Vergangenheit, in die, schon vorweg und prophetisch, der unausweichliche künftige Tod eingelassen ist. Unterm Blick des Melancholikers breiten sich auf den Bildern der barocken Meister die emblematischen Gegenstände der Vanitas aus. Um auf den Weg der Reue und der Ewigkeit zu verweisen, wenn die Melancholie religiös geprägt ist. Aber auch um sterblich zu verführen, wenn Narziß sich über sein Spiegelbild beugt und nicht mehr imstande ist, sich davon zu lösen. Wenn die Literatur für das Gedächtnis eines Lesers aus Bildern besteht, die einander gegenseitig aufrufen – wie kann man dann nicht umhin, in der langen Reihe gebeugter Gestalten gerade die wiederzuerkennen, die von der Wollust der Tränen gezeichnet sind und manchmal auch vom Erstaunen, sich selbst weinen zu sehen, in einem Spiegel oder einem Fluß? Und wie dann nicht auch die Antwort vernehmen, die die Baudelairesche Andromache, wenn ein „erlogener Simoïs“ unter ihren Tränen „anschwillt“, der Diana von Vigny gibt, die „am Rande ihrer Brunnen… weint.“

*

Daß unter den Emblemen der Melancholie sich die Aufmerksamkeit legitimerweise auf die niedergebeugten Figuren richtet; daß sich aus ihrem Kreis wiederum diejenigen aussondern lassen, die ihren Blick auf eine widerspiegelnde Oberfläche gesenkt halten: eben das weist den Weg (die Methode), den eine „thematische“ Interpretation einschlagen kann. Es ist nicht nötig, sich auf diese Spur einzulassen. Es genügt, ihre Möglichkeit erkannt zu haben und zu wissen, daß die Kritik sich in einer diachronischen Untersuchung entfalten könnte. Auf der Stelle eröffnet sich uns ein Nebenweg zur erneuten Lektüre eines Dichters. Ein Thema in einem Werk zu isolieren, ist nur im Sinne einer ersten Annäherung legitim. Ein Thema hat nur Bedeutung, wenn es Elemente enthüllt, die es vervollständigen, darauf reagieren, ihm widersprechen – in einem System von Bezügen, die sonst unbemerkt geblieben wären. Wenn das Thema schon an sich strukturiert ist, ist ein thematischer Ansatz mit einem strukturalen durchaus nicht inkompatibel. In jenem Echospiel, aus dem ein Gedicht erwächst, können die Rhetorik, zu der sich ein Bild gebrauchen läßt, und die entwickelte Form des ganzen Gedichtes einander aufs engste entsprechen.

*

Bei Baudelaire wird die Assoziation der gebeugten Gestalt mit der Melancholie durch das Eingeständnis des „lyrischen Ichs“ selbst bekräftigt (wenn das überhaupt noch nötig ist), das mit einem allegorisierten Feind im Handgemenge liegt:

l’Espoir,
Vaincu, pleure, et l’Angoisse atroce, despotique,
Sur mon crâne incliné plante son drapeau noir

die Hoffnung, die besiegte, weint, und grause Angst pflanzt herrisch auf meinem gesenkten Schädel ihre schwarze Fahne auf.1 

Und wenn die enge Verbundenheit von Spleen und im Spiegel wahrgenommenem Reflex noch eines weiteren Beweises bedarf, mag man bei den bewundernswerten Versen von „L’Irrémédiable“ innehalten und wird in diesem – durchaus symbolisch – in zwei Hälften geteilten Gedicht auf die beiden letzten Vierzeiler stoßen, die den „Spiegel“-Teil bilden:

Tête-à-tête sombre et limpide
Qu’un cœur devenu son miroir!
Puits de Vérité, clair et noir,
Où tremble une étoile livide,

Un phare ironique, infernal,
Flambeau des grâces sataniques,
Soulagement et gloire uniques,
– La conscience dans le Mal!

Welch düster-lichtes Aug-in-Auge, sein eigener Spiegel geworden, ein Herz! Brunnen der Wahrheit, klar und schwarz, in dem ein fahler Stern bebt,

Ein Leuchtfeuer höllischen Spotts, Fackel satanischer Huld, Linderung einzig und einziger Ruhm – die Bewußtheit im Bösen!

„Le Cygne“, dieses große Gedicht der Melancholie, paart den Akt des Gedenkens mit dem Bild der niedergebeugten Gestalt. Es vollzieht diese Vereinigung, indem es sie durch eine Verdoppelung erweitert. Die gebeugte Gestalt ist zunächst der – ferne, imaginäre – Gegenstand, auf den sich das Gedenken des „lyrischen Ichs“ richtet. Und diese gebeugte Gestalt, Andromache, steht ihrerseits im Banne des Gedenkens an einen verlorenen Ort, eines Gedenkens, das zu Gram geworden ist – Gram, der sich nur weiter steigern kann, wenn er sich über das Schattenbild des verlorenen Ortes beugt, über das geminderte und beeinträchtigte Abbild des Flusses, der diesen Landstrich einst durchmaß: 

Andromaque, je pense à vous! Ce petit fleuve,
Pauvre et triste miroir où jadis resplendit
L’immense majesté de vos douleurs de veuve,
Ce Simoïs menteur qui par vos pleurs grandit,

A fécondé soudain ma mémoire fertile,
Comme je traversais le nouveau Carrousel.

Deiner gedenke ich, Andromache! – Der kleine Fluß, in dessen seichtem und trübem Spiegel dir einst die gewaltige Hoheit deines Witwen- Grames widerschien, jener erlogene Simoïs, der von deinen Tränen schwoll,

Hat unversehens mein Gedächtnis zur Fruchtbarkeit erregt, als mein Weg mich über das neue Carrousel führte.

Jeder dieser Akte des Gedenkens, die mehr oder weniger ausdrücklich mit einem Verlusterlebnis verknüpft sind, bezeichnet einen zeitlichen Abstand, bezieht sich auf eine Landschaft von früher. „Le Cygne“ ist, wie bekannt, das Gedicht des Exils und der Verbannten. Es steuert, im spezifischen Kontext der Moderne des Zweiten Kaiserreiches, das treffendste Beispiel für das bei, was Schiller in seinem berühmten Essay „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795) die „sentimentalische Elegie“ nannte. Eine bestimmte Variante dieser poetischen Haltung ist die sentimentalische Idylle, und eben die hat Baudelaire im ersten Gedicht der „Tableaux parisiens“ vor Augen, wenn er, freilich mit der Ironie falscher Treuherzigkeit, seine Absicht äußert, „von allen Kinderfreuden der Idylle… zu träumen“. Es sei daran erinnert, daß Schiller die sentimentalische Poesie durch die Reflexion definiert. Der sentimentalische Dichter „reflektiert über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen… Der sentimentalische Dichter hat es daher immer mit zwei streitenden Vorstellungen und Empfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit seiner Idee als dem Unendlichen, zu tun.“ Baudelaire war in der Tat mit dem Widerstreit, dem Mißklang engstens vertraut:

Bin ich denn nicht ein falscher Akkord in der göttlichen Symphonie? („L’Héautontimorouménos“.)

In der Elegie sind, Schiller zufolge, die Natur und das Ideal Gegenstände der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. „Spleen et idéal“, der Zwischentitel des ersten Teils der Fleurs du mal, entspricht den Schillerschen Kategorien ziemlich genau.
Die erste Regung des Gedenkens und das Auftauchen der erinnerten Bilder hat sich im Geiste des „lyrischen Ichs“ ganz plötzlich vollzogen, bei der Überquerung eines Platzes der neuen Stadt. Der jetzige Ort, der jetzige Augenblick bewirken eine jähe Überlagerung mit früheren Stätten und Epochen, nach Ablauf einer ganzen Spanne von Zeit, die durch Zerstörung, Trauer, Verlust geprägt ist: als Stütze und Bürgen hat dieser damalige Raum nur die Erinnerung des Dichters. Von ihm allein geht die Kette von Analogien aus, die die Gestalten miteinander verbindet: jene „liebsten Erinnerungen“, die für immer in ihm heimisch sein werden. So war es bereits der Fall im zweiten „Spleen“-Gedicht, wo er sein „trauriges Gehirn“ mit einem „großen Möbel mit Schubfächern“ verglich, mit einer „Pyramide“, mit einer „ungeheuren Gruft“, mit einem „Kirchhof“ oder mit einem „alten Boudoir“: die Metaphernreihe der Behältnisse war lang und vielgestaltig. In „Le Cygne“ wird das Behältnis kaum mehr metaphorisiert: es ist „mein Gedächtnis“ oder „meine Melancholie“, um schließlich zum „Wald, in dem mein Geist vereinsamt haust“, zu verblassen. Die Oberhand gewinnt der Gegenstand des Gedenkens, seine emblematische Valenz, sein Allegorisierungsvermögen. Es ist vielleicht nicht belanglos festzuhalten, daß die in ihren sukzessiven Brechungen übereinandergeschichteten Zeiten und Orte (Troja, Buthroton, der alte Louvre, der abgetragene Platz, das neue Carrousel) Zeitaltern der Poesie entsprechen: Homer, Euripides, Vergil, Racine, der Romantik, dem modernen Erfindungsstil. Daß der erste Gegenstand der Erinnerung, Andromache, eine poetische Gestalt ist, hinter der sich kein „reales“ Wesen ausfindig machen läßt, gibt nicht nur zu verstehen, daß sich das Gedenken in einer Regung intensiven Mitgefühls zunächst einer Illusion zuwendet; gleichzeitig gilt der bedauernde Rückblick auch einem vergangenen Zeitalter der Poesie: der Vergilschen Musikalität, die in der gegenwärtigen Welt keinen Raum und auch keinen Wahrheitswert mehr hat. War Vergil nicht der „Schwan von Mantua“?
Das Wort miroir [Spiegel], das im zweiten Vers auftaucht, gewinnt sein ganzes Gewicht, wenn man sich die Gliederung des Gedichtes in zwei Teile vor Augen hält. Diese Zweiteilung bewirkt einen Effekt von Spiegel und Widerschein. Im ersten Teil verweist ein erstmaliges Auftauchen des Wortes jadis [einst] als Zeitmarke auf das Bild der Andromache, die sich über den „kleinen Fluß“ beugt; dasselbe Adverb taucht ein zweites Mal auf, um die Erinnerung an das Tiergehege zeitlich zu situieren, aus dem eines Morgens der Schwan entwichen war. Im zweiten Teil werden die beiden Bilder, ausgehend von der Situation im Präsens, in umgekehrter Reihenfolge entfaltet, ein Verfahren, das eine chiastische oder austauschbare Spiegelstruktur ergibt. Die Sequenz verläuft also folgendermaßen: I: Andromache, der Schwan; II: Der Schwan, Andromache, gefolgt von anderen Gestalten.
Der erste Teil sei hier in rückläufiger Richtung durchmessen:

Aussi devant ce Louvre une image m’opprime:
Je pense à mon grand cygne, avec ses gestes fous,
Comme les exilés, ridicule et sublime,
Et rongé d’un désir sans trêve! et puis à vous,

Andromaque, des bras d’un grand époux tombée,
Vil bétail, sous la main du süperbe Pyrrhus,
Aupres d’un tombeau vide en extase courbée;
Veuve d’Hector, hélas! et femme d’Hélénus!

So auch bedrückt vor diesem Louvre mich ein Bild: ich denke an meinen großen Schwan, mit seinen närrischen Gebärden, lächerlich wie die Verbannten und wie sie erhaben, und zerfressen von unaufhörlichem Verlangen! und dann an dich,

Andromache, aus den Armen eines großen Gatten Herabgesunkene, ein Stück Vieh nur in der Gewalt des stolzen Pyrrhus, schmerzverzückt vor einem leeren Grabe hingebeugt; Witwe des Hektor, ach! und Weib des Helenus! 

Das „ich denke an“, das im zweiten Teil wiederkehrt, bringt also eine Reihe von Spiegelbildern hervor. Aber das seinerseits wiederholte „ich denke an“ beschränkt sich nicht auf die Wiederholung des Vergangenen. Im Präsens verankert, ist es das dominierende Verbum, und seine anaphorische Wiederkehr im zweiten Teil häuft und mehrt die gegenwärtigen Gestalten des Exils – angefangen bei der Erscheinung der „von der Schwindsucht abgemagerten Negerin“ (im Singular) und schließend mit der unendlichen Reihe kollektiver Pluralwesen: den „Waisen“, den „Matrosen, die man auf einer Insel vergessen hat“, den „Gefangenen“, den „Besiegten“ und jenen „sehr vielen andern noch“, von denen gesagt worden ist, daß sie, indem sie das Gedenken in der Schwebe und Unbestimmtheit halten, das Gedicht mit seinem letzten Vers wie ein Musikstück ohne Schlußkadenz und ohne Rückkehr zur Tonika ausklingen lassen.
Sehr leicht läßt sich die Symmetrieebene, der Fluchtpunkt ausmachen, auf den sich die beiden Teile spiegelbildlich beziehen. Es ist die erste Strophe des zweiten Teiles, diejenige, in der, am ihnen angemessenen strategischen Ort, die Worte mélancolie und allégorie auftauchen:

Paris change! mais rien dans ma mélancolie
N’a bougé! palais neufs, échafaudages, blocs,
Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie,
Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs.

Paris verändert sich! nichts aber hat in meiner Schwermut sich bewegt! neue Paläste, Gerüste, Steinblöcke, alte Vorstädte, alles wird mir zur Allegorie, und meine liebsten Erinnerungen lasten schwerer als Felsen.

Diese Strophe bildet ihrerseits die Replik auf die Verse 7 bis 12 des ersten Teiles, indem sie ihnen eine ganze Dimension von Selbstreflexion hinzufügt:

Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville
Change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel);

Je ne vois qu’en esprit tout ce camp de baraques,
Ces tas de chapiteaux ébauchés et de fûts,
Les herbes, les gros blocs verdis par l’eau des flaques,
Et, brillant aux carreaux, le bric-à-brac confus.

Das alte Paris ist nicht mehr (die Gestalt einer Stadt wechselt rascher, ach! als das Herz eines Sterblichen);

Nur im Geiste seh ich noch dieses ganze Barackenlager vor mir, diese Haufen grobbehauener Kapitelle und Säulenschäfte, das Unkraut und die großen Blöcke, die vom Wasser der Pfützen grüne Flecken hatten, und, hinter Scheiben blitzend, des Werkzeugs wüster Stapel.

Es ist nicht ungerechtfertigt, diesen Text zu lesen, indem man dabei an manche Grundzüge der melancholischen Welterfahrung denkt.
Der erste dieser Wesenszüge ist der Verlust der „Synchronie“ zwischen der inneren Zeit und der Bewegung der Dinge der Außenwelt. Die innere Zeit des Melancholikers ist verlangsamt, manchmal sogar stillgestellt und erstarrt. Das äußere Schauspiel verläuft für ihn zu rasch, manchmal geradezu im Rhythmus einer grotesken Komödie: daher die melancholische Anklage des Weltlaufs als eines Aufzuges von Masken und substanzlosen Schauspielern. („Die ganze Welt ist Bühne“: es ist der melancholische Jacques, der diese Tirade in „As You Like It“ deklamiert, und auch Jacques ist eine Figur, die, neben einem verwundeten Hirsch kniend, das Wasser eines raschen Baches mit ihren Tränen mehrt.) Die Asynchronie des „Herzens eines Sterblichen“ und der „Gestalt einer Stadt“ ist eine der eindrucksvollsten Vergegenständlichungen der melancholischen Geistesverfassung. Zweifellos müssen hier auch die tiefgreifenden Umgestaltungen der Pariser Stadtlandschaft in Rechnung gestellt werden, eine Konsequenz der soziopolitischen Umwälzungen, die mit dem Aufschwung der Industrie und der Bourgeoisie in Zusammenhang stehen.2
Die melancholische Feststellung „Paris verändert sich!“ wird, wie die melancholische Erlebnisweise insgesamt, von einer ihr zugrundeliegenden Anklage begleitet. Das ist der Schlagschatten, den zahlreiche neuere Leser sich vor ihren Augen haben vertiefen sehen. Die Abriß- und Neubauarbeiten der Stadtplanung zur Mitte des Jahrhunderts mit ihrer Mischung aus Monumentalität und repressiver Funktion – sind sie eine der Ursachen des spleen und des Verbannungsgefühls? Oder werden sie vor Augen geführt, weil das melancholische Lebensgefühl keine Ruhe läßt, bis es einen Gegenstand gefunden hat, an dem es sich abarbeiten kann, indem es jedem Bild, das sich zur Widerspiegelung der Berechtigung seiner eigenen Trauer bereitfindet, die Bedeutung des Verlustes anheftet? Die beiden Hypothesen sind gleichermaßen gültig; man muß sich davor hüten, sich zugunsten der einen oder der anderen zu entscheiden… Zu Recht hat man behauptet, daß „Le Cygne“ auch eine soziopolitische Deutung zuläßt. Man täte jedoch unrecht, das Gedicht darauf zu reduzieren.
In der ikonologischen Tradition, die Baudelaire, „Liebhaber von Karten und Stichen“, gut kannte, sind die emblematischen Gestalten der Melancholie von verstreuten Gegenständen umgeben. Diese Unordnung ist bald die des Werkraums, wo die Arbeit vorübergehend unterbrochen wurde, bald die der Ruinenstätte, wo die Reste dahingesunkener Monumente verdämmern. Manchmal kommt es vor, daß angefangene Rohbauten mit Trümmern durchmischt liegen. Das ist die Mischung der Elemente, der Zustand des Chaos, der an den Ausgangspunkt (oder an das unerläßliche Durchgangsstadium) gemahnt, von dem aus die Arbeit des Alchimisten Zugang zum Großen Werk zu finden versucht. Baudelaire „sieht“ diese Landschaft „im Geiste“. Hier übernimmt, soviel sei im Vorbeigehen festgehalten, die visuelle Erinnerung, wenn sie sich an die Gestalt des Schwanes heftet, zeitweilig die Rolle der anfänglichen Aktivität des Gedenkens. Das „ich gedenke“, das in den letzten fünf Strophen des Gedichtes seine formbildende Kraft zurückgewinnt, wird durch die Folge von Sätzen unterbrochen, in denen voir als Hauptverbum auftaucht: eben damit tritt ein tableau parisien in Erscheinung. Ein doppeltes tableau, weil es sich ja um ein Paris von „einst“ und gleichzeitig um das „neue Carrousel“ handelt.
Baudelaire läßt seine Figuren, wie die Maler, die er schätzte, insbesondere wie Delacroix, mit Vorliebe vor Hintergründen auftreten. Das „Barackenlager“ und seine Umgebung bilden, in einer ziemlich weiten perspektivischen Totale, den Hintergrund, vor den die Figur des Schwanes gestellt wird. Dieser visualisierte Hintergrund hebt sich selbst wiederum vor einem ersten Hintergrund ab, der, seinerseits rein geistig, von den Bildern der klassischen Epopöe bevölkert ist: Andromache an den Ufern des „kleinen“ Flusses, dessen Bett sie im Erdreich von Epirus hat ausheben lassen, wo sie die Gewalt des Siegers zu erdulden hatte. Der „erlogene Simoïs“ ist ein entstelltes Bild des Flusses, der im Reiche des „großen Gatten“ dahinströmte. In dem, was schließlich zum Hintergrund des Auftritts des Schwanes wird, bleibt dann nur das „Wasser der Pfützen“. Die Entstellung, die Abschwächung setzt sich fort, wenn unter dem „Schwimmfuß“ des Schwanes nurmehr ein „wasserloser Rinnstein“ fortbesteht. Die Entstellung [dégradation] ist nicht nur, im etymologischen Sinne des Wortes, die Reduktion aufs Triviale, sondern überdies und vor allem das Versiegen, die Trockenlegung.
Die „Barackenlager“-Strophe mehrt und häuft die Bilder der Entstellung in bezug auf die edlen Vergilschen Gestalten. Achten wir auf die klanglichen Elemente. Baraques und flaques steuern zum Namen Andromaque Spott-Reime bei (wie das subsidiär auch bric-à-brac tut). Diese abgehackte, spottversartige Wirkung, einem fratzenhaftem Reflex vergleichbar, wird noch durch die ungewöhnliche Häufigkeit des k-Lautes im Gesamtbild dieser vierzeiligen Strophe hervorgehoben.
In dem zerfahrenen Durcheinander, das den allgemeinen Hintergrund bildet, nimmt das Schauspiel greifbare Gestalt an:

Là s’étalail jadis une ménagerie

Dort erstreckte sich vormals eine Menagerie.

Dann zieht es sich in einem zeitlichen Brennpunkt zusammen und verdichtet sich in der Szene „eines Morgens“:

Là je vis, un matin, à l’heure où sous les cieux
Froids et clairs leTravail s’éveille, où la voirie
Pousse un sombre ouragan dans l’air silencieux,

Un cygne qui s’était évadé de sa cage,
Et, de ses pieds palmés frottant le pavé sec,
Sur le sol raboteux traînait son blanc plumage.
Près d’un ruisseau sans eau la bête ouvrant le bec

Baignait nerveusement ses ailes dans la poudre,
Et disait, le cœur plein de son beau lac natal:
„Eau, quand donc pleuvras-tu? quand tonneras-tu, foudre?“
Je vois ce malheureux, mythe étrange et fatal,

Vers le ciel quelquefois, comme l’homme d’Ovide,
Vers le ciel ironique et cruellement bleu,
Sur son cou convulsif tendant sa tête avide,
Comme s’il adressait des reproches à Dieu!

Dort sah ich eines Morgens, zur Stunde, da unter hellen Frosthimmeln die Arbeit erwacht, da die Straßenkehrer die stille Luft mit Wirbelstürmen schwärzen,

Einen Schwan, der aus seinem Käfig entwichen war und, mit dem Schwimmfuß das trockene Pflaster scharrend, über den holprigen Boden sein weißes Gefieder schleifte. An einem wasserlosen Rinnstein riß das Tier den Schnabel auf.

Und badete mit fahriger Gebärde die Fittiche im Staub, und sprach, im Herzen seines schönen Heimatsees gedenkend: „Wasser, wann endlich wirst du niederregnen? wann wirst du donnern, Wetterstrahl?“ Ich sehe, wie der Arme, ein unheilvolles Zeichen wunderlicher Sage,

Zum Himmel manchmal, gleich dem Menschen bei Ovid, zum schadenfrohen, grausam blauen Himmel auf zuckendem Halse sein durstgequältes Haupt reckt, als schleudre er Vorwürfe gegen Gott!

Bevor die Weiße des Schwanes in vollem Licht erglänzt, stellt der frühmorgendliche Zeitpunkt seinerseits einen Hintergrund (die „hellen Frosthimmel“, die „stille Luft“) und eine allegorische Figur einander gegenüber, die „Arbeit“, gefolgt von einer dunklen Masse: den „Wirbelstürmen“, die die „Straßenkehrer“ aufstieben lassen. Opposition von Gegensätzen, von Dunkelheit und Helligkeit; Opposition in der Gleichzeitigkeit, gemäß der Vorliebe für das Oxymoron, die die Baudelairesche Poesie mit so vielen Beispielen belegt. Derselbe pikturale Kontrast von Hell und Dunkel tritt im zweiten Teil in Erscheinung, wenn die „von Schwindsucht abgemagerte Negerin“ sich vor der „ungeheuren Nebelmauer“ abhebt.
Unter den der Melancholie geweihten Kindern Saturns nahmen die Gefangenen eine Vorzugsstellung ein. Der Schwan im Käfig ist ein prachtvolles Emblem der Melancholie. (Ich weiß nicht, ob je ein Maler oder Kupferstecher auf die Idee verfallen ist, dieses Thema darzustellen. Zu erwähnen ist wenigstens eine Melancholie von Virgil Solis: auf diesem Kupferstich sitzt die in sich versunkene weibliche Gestalt in Begleitung eines Schwanes und eines Hirsches, und ganz in der Nähe kann man einen Felsblock, einen Säulenschaft und einen Fluß ausmachen.)3 Seinem Käfig entwichen, um auf dem „trockenen Pflaster“, unter den „kalten“ Himmeln sich hinzuschleppen, ist der Schwan der brütendsten Melancholie geweiht. Gemäß der traditionellen Temperamentenlehre ist die Melancholie trocken und kalt: die Intuition Baudelaires hat ihn erneut auf diese beiden substantiellen Eigenschaften zurückgreifen lassen. Hinzugefügt sei, daß für den entwichenen Schwan, wie Ross Chambers in Erinnerung ruft, die scheinbar wiedergewonnene Freiheit im Grunde eine viel schwererwiegende Trennung ist. Es ist der Übergang von einer zufälligen Gefangenschaft zu einem essentiellen Exil – zu absolutem Mangel und Entzug. Das „trockene Pflaster“ stellt im zweiten Teil seinen verbalen Bürgen mit den „magren Waisen, die wie Blüten welken“; der „wasserlose Rinnstein“, die Ferne des „Heimatsees“ und der offene „Schnabel“ signalisieren einen bereits metaphorischen Durst und Mangel, für den der zweite Teil eine ironische Hervorhebung bereithält, in der bitteren Befriedigung, die es „jenen“ Wesen verschafft, am „Schmerz“ zu saugen oder sich mit „Tränen“ zu tränken. Die Trockenheit der erinnerten morgendlichen Szene prägt sich so an zentraler Stelle ein, nach den beiden Anfangsbildern des täuschenden Wassers, dem „erlogenen Simoïs“, der unter Andromaches Tränen anschwillt, und dem „Wasser der Pfützen“, und vor anderen Bildern des trüben Wassers, das diesmal in „Straßenschmutz“ und „Nebelmauern“ verwandelt, zu „Tränen“ und „Schmerz“ allegorisiert wird (so als ob der majestätische „Witwen-Gram“ des Anfangs zu einer Brust geworden wäre, an der sich saugen läßt), schließlich dann zum feindseligen Ozean, der die Matrosen zur Weltflucht auf der Gefängnis-Insel verurteilt.
Das Gedicht hält einen ganzen Überfluß an Paradoxien und Umkehrungen bereit. Die Paradoxie liegt darin, daß der Dichter beim Überqueren des „neuen Carrousel“ sich des an ebendieser Stelle wahrgenommenen Schwanes nur auf dem Umweg über das Bild der „Witwe“ Andromache und nach einer spiegelbildlichen Befruchtung zu erinnern vermag, die der von Tränen angeschwollene „kleine Fluß“ bewirkt hat: die assoziative Verknüpfung geht vom Fernsten aus. Die Paradoxie und die Umkehrung – und damit bringt diese Befruchtung, vergleichbar jener, die Ägyptens Erde zur „Fruchtbarkeit erregt“, das Schauspiel des Durstes und der Trockenheit hervor (im Herzen einer Stadt, die selbst von einem großen Fluß durchmessen wird). Die Umkehrung besteht, einmal mehr, im Bild des „zuckenden Halses“ des Tieres, der zum „schadenfrohen Himmel“ aufgereckt wird und folglich mit der Haltung von Andromache kontrastiert, die „schmerzverzückt vor einem leeren Grabe hingebeugt“ kniet.
Die vom Schwan verkörperte Dimension der Vertikalität bezeichnet dem Himmel einen Mangel, eine Absenz – analog denen, auf die Andromaches Trauer beim Betrug des künstlichen Flusses und in der Leere des Kenotaphs stieß. Zur ironischen Kennzeichnung der Gebärde des Tieres, das „sein durstgequältes Haupt“ gen Himmel reckt, führt Baudelaire eine Anspielung auf die klassische Lobpreisung der menschlichen Vertikalität ein:

der Mensch bei Ovid.

Und gleichsam zur zahlenmäßigen Steigerung der Reime auf -vide wiederholt Baudelaire beim zweiten Auftauchen von Andromache die Klangwirkungen des Namens Ovid(e) in Gestalt des „tombeau vide“; beabsichtigt oder nicht, die Wiederholung bewirkt einen Bedeutungswechsel. Ovid ist ein Verbannter. Baudelaire erinnert sich dessen. (Im Jahre 1860, in dem „Le Cygne“ erscheint, veröffentlicht Baudelaire auch „Horreur sympathique“, ein Gedicht, in dem sich die Reime auf -vide – im Anschluß an livide – geradezu häufen und Ovid, „vertrieben aus dem Paradies des kaiserlichen Rom“, seine Verwandtschaft mit den in „Le Cygne“ vergegenwärtigten Gestalten bezeugt.)4
Nun sind le vide, die Leere, und die Absenz von durststillendem „Regen“ im „schadenfroh blauen Himmel“ aber Attribute, die einem „Herzen“ vorbehalten bleiben, „das seines schönen Heimatsees gedenkt“ – „le cœur plein de son beau lac natal“: wie beim „fruchtbaren Gedächtnis“ wird die Fülle einem Bedürfnis zugeschrieben, das vom Bild dessen heimgesucht wird, was ihm entzogen worden ist. Die Gegensätze sind Ergänzungen, sie ergänzen sich aber nur, um besser aussagen zu können, daß jede Fülle mit dem Mangel verbunden bleibt und jeder Mangel Quelle einer paroxystischen „Ekstase“ ist. Das war die Gottheit, die im Gedicht Ovids dem Menschen das os sublime [den „erhobenen Blick“] geschenkt hatte, das gen Himmel gerichtete Antlitz. Der Baudelairesche Schwan aber, parodistisches Bild des ersten erschaffenen Menschen, wendet sich einem Himmel zu, der nicht antwortet, einem Gott, der, wenn er denn existiert, nur Zielscheibe von Hohn und „Vorwürfen“ sein kann. So ähnelt der Schwan, und nicht nur durch den Aspekt der „Lächerlichkeit“, den „Blinden“, die in einem anderen Gedicht der Tableaux parisiens vor Augen geführt werden:

Leurs yeux, d’où la divine étincelle est partie,
Comme s’ils regardaient au loin, restent levés
Au ciel…
… Je me traîne aussi! mais, plus queux hébété,
je dis: Que cherchent-ils au Ciel, tous ces aveugles?

Ihre Augen, denen der göttliche Funken entwich, bleiben, als blickten sie ins We ite, dem Himmel zugekehrt;… auch ich schleppe mich! doch stumpfer noch als jene spreche ich: Was suchen sie am Himmel, alle diese Blinden?

Angesichts des Schwanes, im Banne des erahnten, gemeinsam geteilten Durstes, erhebt sich erneut und pathetisch die drängende Frage. Aber nicht die Frage, die der Dichter selbst ausspricht: sondern die, die er dem Tier in den Mund legt und von ihm vernimmt:

Eau, quand donc pleuvras-tu? quand tonneras-tu, foudre?

Wasser, wann endlich wirst du niederregnen? wann wirst du donnern, Wetterstrahl?

Ausgehend von dieser Prosopopöie, die die Personifizierung des Tieres vollzieht, findet es, „ein unheilvolles Zeichen wunderlicher Sage“, endgültig Zugang zum Status der Allegorie. Es verbildlicht den Verlust, die Trennung, den Entzug, die vergebliche Ungeduld. Das Heimweh, das ihm die Sehnsucht nach seinem „schönen Heimatsee“ eingibt, setzt einen unüberbrückbaren Abstand voraus; dieser Abstand ist mit jenem anderen verglichen worden, der sich in der Allegorie zwischen dem signifizierenden „konkreten“ Bild und der signifizierten „abstrakten“ Wesenheit auftut: daher die Versuchung zur Gleichsetzung von cygne [Schwan] und signe [Zeichen], wie sie in jüngster Zeit von zahlreichen Kommentatoren vollzogen wurde.
Gleichwohl muß darauf hingewiesen werden, daß die Allegorie sich in der Art und Weise, wie Baudelaire sie benutzt, in doppelter Gestalt manifestiert. Einerseits besteht sie (wie wir summarisch sagen wollen) in der Möglichkeit der Dechiffrierung einer scheinbar banalen Begegnung und ihrer kontingenten Buchstäblichkeit im „spirituellen“ Sinne; andererseits und umgekehrt legt sie aber „abstrakten“ Wesenheiten eine materialisierte, leibhaftige, gleichsam sichtbare Gestalt bei. Im ersten Falle läßt sich die visuell wahrgenommene Sache, der aus seinem Käfig entwichene Schwan, obendrein als Gestalt der Nostalgie und des Exilgefühls lesen; im zweiten wird der hier personifizierte Schmerz (mit der ungewöhnlichen Majuskel auf Französisch) durch bildlich-veranschaulichende Übersetzung und mythologische Reminiszenz zur „guten Wölfin“. In beiden Typen von Allegorisierung werden wir Zeuge einer Bedeutungsverdoppelung.
Eine derartige Bedeutungsverdoppelung ist ihrerseits einer doppelten Interpretation zugänglich: Es läßt sich geltend machen, daß die Allegorie einen Bedeutungsüberschuß manifestiert, daß sie die vielfältigen „Korrespondenzen“ bloßlegt, in die jeder Gegenstand der Realität eingebettet ist, oder die unzähligen sinnlichen Formen enthüllt, in denen sich jede ideelle Wesenheit verkörpern kann. Aber auch die umgekehrte, von Walter Benjamin vorgetragene Argumentation ist annehmbar: Wenn das Reale unsrer Wahrnehmung nach unfähig ist, als solches Bedeutung zu tragen, wird es nötig, es um eine zweite Bedeutung zu vermehren, um die Zerstreuung aller Bedeutungen und das Eindringen des Sinnlosen zu verhindern.5 Anders ausgedrückt: Wenn wir für die Welt in der Form, wie sie ist, blind werden, finden wir daran Gefallen, uns ein Schattentheater zu erfinden, das der projektive Abglanz der Ideen auf Erden ist und die Leere der Welt maskiert.
Baudelaire wollte an den Bedeutungsüberschuß glauben und hat der Schrumpfung der Realität die Stirn geboten (wie sie ganz direkt vom historischen Faktum der zerstörerischen Eingriffe in die Stadtlandschaft bezeugt wird). Wenn die Allegorie in „Le Cygne“ im Sinne des Bedeutungsüberschusses verfährt, so paradoxerweise nur, um das Exil und das Heimweh auszusprechen, die nach Genugtuung rufen. So finden sich die beiden Arten der Allegorie (Lektüre des Realen und Verleiblichung, Verstofflichung der Ideen) und die doppelte Interpretation, die sie erfahren kann, vereint: Überfülle oder Mangel.
In der ersten Strophe des zweiten Teiles scheint die mit mélancolie reimende allégorie zwischen den beiden einsilbigen Reimen blocs und rocs zu Stein zu werden. Und die Reglosigkeit („nichts… hat sich bewegt!“), die bedrückende Schwere (die Hyperbel, die die „liebsten Erinnerungen schwerer als Felsen lasten“ läßt) steuern zur Melancholie zwei der Attribute bei, die in der poetischen und philosophisch-ärztlichen Tradition am beständigsten beschworen werden. Die Allegorie wäre dergestalt also der Gipfel der Melancholie: ein Mittel, das zwar das Verstreichen der Zeit und die Bilder der Zerstörung bannt, aber jegliches Leben stillstellt, indem es auf die Welt und sich selbst den Blick der Medusa wirft…
Gleichwohl bewegt sich das Denken, das Gedenken in diesem Gedicht von Allegorie zu Allegorie. Es erzeugt so eine evokatorische Bewegung, die, wie man bemerkt hat, so weit ausgreift, daß sie das Gedicht, in einer irritierenden Schwebe, offenläßt. Die Versteinerung hat also nicht stattgefunden, obwohl sie behauptet wurde. Und vielleicht ist sie nur behauptet worden, um gebannt zu werden. Denn sobald das „ich denke an“ im zweiten Teil des Gedichts wieder das Heft der Aussage in die Hand nimmt, scheint ein Zauberbann gebrochen.
Wir wissen, daß das ständige Wiederaufgreifen für den Kliniker eines der Indizien des melancholischen Gemütslebens ist, das bis zum „Monoideismus“ verarmen kann. Muß aber in der Wiederholung des „ich denke an“ eine Form melancholischen Wiederkäuens gesehen werden? Handelt es sich hier nicht eher um einen Ruderschlag, um ein Atemholen, das das Bewußtsein neubelebt und eine Zeit der Befreiung eröffnet?
Fassen wir die Wortfolge und die Art und Weise ins Auge, wie das erste „ich denke“ eingeführt wird. Zwischen den angerufenen Namen von Andromache und das sie repräsentierende vous eingeschoben, ist das „ich denke“ von der großen weiblichen Gestalt buchstäblich umgeben: gleichsam in sie eingeschmiegt. Es handelt sich in der Tat nicht um ein vereinzeltes, nach Art des cartesianischen „ich denke“ verabsolutiertes „ich denke“. Alle „ich denke“ des Gedichtes sind an unglückliche Wesen gerichtet – die ihrerseits in Gedanken versunken sind oder vom Gedenken an andere Wesen oder andere Orte umgetrieben werden. Das an der geistigen Zuwendung ist ausschlaggebend. Die Widmung „Für Victor Hugo“, der damals im Exil lebte, läßt das ohne weiteres erkennen. Desgleichen sind im ganzen weiteren Verlauf des Gedichtes alle richtungweisenden Präpositionen wichtig (ich stelle ihre Erfassung ins Belieben des Lesers). Ich verweise erneut darauf: Die Bewegung des Gedenkens hält nicht bei der Zuschreibung einer allegorischen Bedeutung an die sichtbaren Gestalten inne. In Richtung dieser Wesen geht sie vor allem, um sie in den unabgeschlossenen Kreis der „Verbannten“ aufzunehmen. Es handelt sich also nicht um eine schlichte Aufzählung homologer Gestalten: die beispielhaften Figuren mögen ruhig nebeneinandertreten; jede von ihnen stellt sich doch ein, als sei sie von einem ganz neuen Anflug von Mitgefühl entdeckt worden:

Je pense à la négresse, amaigrie et phtisique,
Piétinant dans la boue, et cherchant, l’œil hagard,
Les cocotiers absents de la superbe Afrique
Derrière la muraille immense du brouillard;

A quiconque a perdu ce qui ne se retrouve
Jamais, jamais! à ceux qui s’abreuvent de pleurs
Et tettent la Douleur comme une bonne louve!
Aux maigres orphelins séchant comme des fleurs!

Ainsi dans la forêt où mon esprit s’exile
Un vieux Souvenir sonne à plein souffle du cor!
Je pense aux matelots oubliés dans une île,
Aux captifs, aux vaincus! … à bien d’autres encor!

Ich denke an die Negerin, die von der Schwindsucht abgemagert durch den Straßenschmutz sich schleppt, und hinter ungeheurer Nebelmauer nach den fernen Kokospalmen des stolzen Afrikas verstörten Auges späht;

An jeden, der verlor, was nimmer! nimmer! sich wiederfindet! an jene, die sich mit Tränen tränken und an dem Schmerz wie an den Zitzen einer guten Wölfin saugen! an die magren Waisen, die wie Blüten welken!

So in dem Walde, wo mein Geist vereinsamt haust, läßt eine alte Erinnerung mit vollem Klang ihr Horn erschallen! Ich denke an die Matrosen, die man auf einer Insel vergessen hat, an die Gefangenen, an die Besiegten!… und an sehr viele andre noch!

Die Unentschiedenheit des Schlusses läßt sich als Bruch verstehen, der das Gedicht zu einer Art Analogie der geborstenen Säulen macht, die, in so mancher klassischen Allegorie der Melancholie, in der Umgebung der gedankenversunkenen Gestalt aufragen. Er läßt sich aber auch als Zeichen der Unbegrenztheit der Regung von Mitgefühl verstehen, die sich ungeteilt, ohne Knauserei ausbreiten möchte. Sobald sich das Gedenken, von wahrer Barmherzigkeit getragen, dem leidenden Anderen zuwendet, bieten sich auf der Stelle „sehr viele andre noch“ dar.
Die Schlußstrophe ruft eine letzte Bemerkung auf dem Plan. In der veränderten Stadt, „vor diesem Louvre“ (wohlgemerkt: das „neue Carrousel“), fühlte sich der Dichter im Stande des Exils. Hier malt sein „Geist“ sich das Exil jetzt als Waldeinsamkeit aus, als willentliche Flucht unter fernes Laubwerk. Dieser neuen Gestalt des Exils entspricht eine neue Gestalt des Gedenkens. Wir lasen:

Und meine liebsten Erinnerungen lasten schwerer als Felsen.

Jetzt hebt und begeistert sich „eine alte Erinnerung“ (mit der personifizierenden Majuskel), die etwas anklingen läßt, das dem „Jagdruf“ ähnelt, den man in einem anderen Gedicht Baudelaires vernimmt.6 Hier also äußert sich die nicht mehr versteinerte, sondern mit musikalischem Leben erfüllte Erinnerung. Und hier folgt auf die Bedrückung („Ein Bild bedrückt mich“) die Fülle des Klanges. Zwar haben wir das Reich der Melancholie nicht verlassen, aber die verhängnisvolle Schwere ist von dem volltönenden Klangfluß verdrängt worden, so als ob im Strömen von Ton und Klang auch die Lebensgeister wiederkehrten. Das cor [Horn] steht nicht nur einfach da, um sich auf das abschließende encor [noch] zu reimen. Wenn wir das Wechselspiel von Klang und Bedeutung der Worte erfassen, wenn wir auf die Abfolge der Buchstaben achten – wie sollte man dann außer acht lassen, daß die das Wort cor bildenden Buchstaben das Palindrom von roc sind und daß, wenn man sie umkehrt, in einem letzten Spiegeleffekt das an Gewicht verliert, was zuvor so schrecklich lastete? Und wie sollte man umhinkönnen zu bemerken, daß die Fülle des Klanges nach der Vergegenwärtigung des „leeren Grabes“ in Erscheinung tritt? Wir betreten so den Bereich der musikalischen Melancholie, in dem der Kummer nicht mehr sterblich, die Trauer nicht mehr der Stummheit verfallen ist und in dem der Genuß sich, auf vielleicht perverse Weise, mit dem Schmerz mischt, wie das bereits die „Ekstase“ der Andromache ankündigte. Das ist der Augenblick, da wir, dem Rat Yves Bonnefoys folgend und die Augen vom Buch aufhebend,7 in der Erinnerung das Lied „Trost in Tränen“ oder das Horntrio von Brahms nachklingen hören.

Jean Starobinski, Merkur, Heft 475/476, September 1988
Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen

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