Jiří Gruša: Wandersteine

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jiří Gruša: Wandersteine

Gruša-Wandersteine

DER JIRKA AGAIN
(ausgestiegen 1971) 

Der da des öfteren saß, die rechte nach
vorne, zwischen den fingern ein stäbchen,
die augen verkniffen, voll sorgsamen
schauens der MEISTER DER BÄUME AUS QUALM,
der mit der winzigsten geste rauchringe
schuf; zu erlen sie machte, zu laubholz
und diesem brodelnden wald unerforscht
fremder platanen, unwirsch und
unglaublich breit, mit einem schatten sehr
sterbensfroh…

 

 

 

Seine Gedichte schreibt er inzwischen auf Deutsch

und gerade darin liegt ihr Zauber. Gruša spürt das Fremde im Vertrauen auf, das Erschreckende und Überraschende alltäglicher Wendungen. Wandersteine sind die Gedichte eines Europäers, der die Kunst gegen die neuen ethnischen Bestimmungen stellt. Gedichte vom Fortgehen und Niemals Ankommen, deren Ausdruckskraft nicht nur in der deutschen Literatur selten ist. „Der Dichter, der Botschafter ist, überbringt uns mehr als eine Botschaft – ein Geschenk an die deutsche Sprache“ (Harald Hartung in der FAZ).

Deutsche Verlagsanstalt, Klappentext, 1994

 

Lyrische Grenzüberschreitungen 

– Das ist schon eher ungewöhnlich: daß ein Lyriker den Sprung in eine fremde Sprache riskiert. Nicht nur so ebenhin, um ein paar linguale Lockerungsübungen zu machen. Sondern dauerhaft und mit Erfolg. – Jiří Gruša hat diese Grenzüberschreitung gewagt, und sie ist ihm gelungen. Der tschechische Poet, der – nach politischem Widerstand und erlittener Haft Anfang der achtziger Jahre ausgebürgert wurde und in Deutschland lebt, schreibt seine Verse seit geraumer Zeit in unserer Sprache – so einfühlsam und geschmeidig, daß man ihn mittlerweile ebensogut der Literatur seines wie unseres Landes zurechnen könnte:

Du stellst dich am morgen ins
fenster und sagst:

ich befehle dir
geh auf
sonne

(meistens gehorcht sie)

Obwohl Gruša seit 1990 als Botschafter in Bonn akkreditiert ist, weiß er Politik und Poesie voneinander zu trennen, ohne sich dabei in den Elfenbeinturm zurückzuziehen.
Der Standort, den dieser Dichter wählt, ist das offene, von keiner Ideologie und keinem gesellschaftlichen Imperativ verstellte normale Leben, das er jedoch nicht etwa deskriptiv abschildert, sondern sensitiv beschwört: 

In der mitte des nirgends
da wohnten wir
in der mittesten
mitte gut gelaunt
GUTEN TAG…

Gruša befrachtet seine Lyrik nicht mit Gedanken. Er verdeutlicht sich durch Bilder, und er ist darauf bedacht, Abstand zu großspurigen Gesten und plakativen Festschreibungen zu halten. Rhetorik und Redundanz scheinen ihm untaugliche Mittel der Poesie. Ihm geht es darum, „Wohnworte“ zu erschaffen und „ein buch… voller heimwörter“ zusammenzustellen – kein schlechtes Programm in einer Epoche, in der verbaler Inflationismus herrscht und Phrasen, Spots und Slogans fast ganz und gar den Blick auf die Wirklichkeit verstellen.
Zwar gibt es bei Gruša auch einen Hang zum Hermetischen. Doch selbst in Texten, die etwas kryptisch angelegt sind, finden sich konkrete Hinweise und Rückbezüge auf das, was gemeint ist. So steht die Metapher „Fertigsärge“ vermutlich für über das Flachland verteilte moderne Siedlungshäuser, und mitunter wird etwas, das es zu bedenken, zu memorieren gilt, in vieldeutiger Weise mehr verschwiegen als ins Licht kontinuierender Erkenntis getaucht: 

– hier wird keine
flaschenpost
verschifft

kürzere sprachen
hätte man
erfinden müssen…

Es gibt Verse, die lassen an die „Engführung“ eines Paul Celan denken, nur daß ihre Assoziationsspiralen nicht vom Dunklen ins noch Dunklere führen, sondern mehr oder weniger ans Licht streben und nach Möglichkeiten, nach Wegen und Auswegen, suchen.
Um nicht Gefangener im Determinationskäfig wissenschaftlichen Denkens und rein zweckrationaler Vorstellungen sein zu müssen, erfindet der Autor ein luftiges Utopia illusionären Zuschnitts: 

… eine tür
tut sich auf
gegen den
süden 

hier
folgen dir nicht
deine toten…

Gruša ist ein luzider Metaphysiker, der sich, durchgeistigt auf heitere Art, lieber von seinem Kater „beim schlafen“ helfen läßt, als daß er sich ins Bodenlose nihilistischer Vorstellungen verliert. Weisheit, darüber läßt Jiří Gruša keinen Zweifel aufkommen, ist kein Philosophieren über das Nichts, das unabwendbare Ende, sondern ein impulsives und sich sensorisch aufladendes Besinnen auf das Leben, das in vielerlei Gestalt erscheint: als „heimweh / nach fremdländern“, als „Fauler / summender sommer“ oder – Shakespeares Böhmen am Meer ist ein Phantasieland ohne kartoraphische und logische Verpflichtung! – als aufgetischtes „Mondmenü“ in einem heimatlichen Garten. 

Hans-Jürgen Heise, die horen, Heft 186, 2. Quartal 1997

König in anderen Welten 

„Ja, ich habe den englischen König bedient.“
„Erzählen sie mir keine Witze – oder sind sie ein Clown?“
„Bitte glauben sie mir.“
„Na dann fangen sie an – wie sieht er denn aus?“
„Also das Problem ist – er ist gar kein König – er ist Dichter!“
„Nun hören sie bitte auf, das klingt ja wie Homer und Shakespeare zusammen.“
„Bitte folgen sie mir – er ist auch Diplomat.“
„Halten sie mich für dumm? Dichter schweben über Welten, beschreiben, analysieren oder verachten – auf jeden Fall die ölige Welt Metternichs. Aus welchem Land stammt denn dieser Wundermensch?“
„Aus Böhmen.“
„Das hätten sie gleich sagen sollen. jetzt können sie erzählen: Ich glaube zwar kein Wort, aber höre amüsiert zu.“ 

So hätte vielleicht Grimmelshausen die Erzählung „Das wunderliche Leben“ des Jiří Gruša begonnen. Ich bescheide mich mit zwei Ereignissen dieses „wunderlichen Lebens“, an denen ich teilnahm.
Hamburg, Akademie der Künste 1995 – ich stand in Prag als erster nichttschechischer Dirigent des nationalen Symbols – der „Philharmonie“ – unter stärkstem politischem Druck. Gruša, damals tschechischer Botschafter in Bonn, war mein Gesprächspartner. In der langen Diskussion prägte er zwei Sätze, die mir unvergesslich sind:

Man kann als Botschafter nur das Volk vertreten, das man hat.

Böhmischer und würziger kaum zu treffen. Dann folgte – hier ganz der Diplomat und dichterische Beobachter:

Prag bleibt Wien.

Man muss beide Städte kennen, um die Treffsicherheit dieser Formulierung zu genießen und zu bewundern.
Prag 1995 – ich hatte seit 1993 mit der Philharmonie Musik aus Theresienstadt auf CDs eingespielt, große Orchesterkompositionen von Ullmann, Krasa, Klein und Haas – zu Unrecht und zu doppeltem Unrecht vergessen. Jiří hatte die Idee, eine kleinere Gruppe der tschechischen Philharmonie nach Bonn einzuladen, brillante Idee: 50 Jahre nach Kriegsende spielt die Philharmonie auf dem Petersberg vor der Creme der nationalen und der internationalen Diplomatie Musik aus Terezin!
Herr Botschafter – sind sie wahnsinnig?? Geld – Geld!
Frühstück im Interconti Prag – wer zahlt? 35 Musiker mit Instrumenten. Flug – Tagegeld – Unterkunft. Größtes Problem der Flug! Jiří:

Wenn der tschechische Außenminister zu Vertragsverhandlungen nach Bonn fliegt, fliegen wir mit dem großen Staatsflugzeug. Wenn nicht – müssen wir einen Privatcharter zahlen. Ich schlage vor, wir teilen uns die Kosten.

Meine Antwort, um dem alten Spruch zu folgen: 

Du verdienst viel mehr, aber als Botschafter bekommst Du nur ein Bruchteil eines Dirigentenverdienst.

Er wollte nicht hören – aber Gott sei Dank flog der Außenminister.
In Köln am Flughafen – zwei Limousinen und Polizei. 

Ich bin noch nie offiziell mit einer Staatsmaschine und einem Außenminister geflogen, aber sind nicht zwei Motorräder mit Polizei etwas wenig?

Seine Antwort:

Du musst wissen, wir sind hier inkognito!!

(Es ging immerhin um das erste Gespräch zum deutsch-tschechischen Vertrag.) 

Es ist mir klar, diese Zeilen reichen nicht. Über den „englischen König“ muss man ein Buch schreiben. Aber vielleicht treffen die beiden Momentaufnahmen, wie ein Fotoblitz, einen König in anderen Welten!
Ich zitiere ihn: Maskenverleih. 

Du wolltest das Arielkleid, um über dein Böhmen zu flattern, so üppig versorgt mit Schiffbrüchigen, ein leichtes Kostüm wolltest du für die schwermütige Insel.

Gerd Albrecht, aus Wolfgang Greisenegger & Wolfgang Lederhaas (Hrsg.): Antworten. Jiří Gruša zum 70. Geburtstag, Wieser Verlag, 2008

Wann gibt es den Gruša-Platz in Prag? 

Eigentlich bin ich stolz darauf, dass es in Wien einen Gruša-Platz gibt. Er ist zwar einem Kardinal und Erzbischof von Wien gewidmet, aber er ist ein Verwandter unseres Jiří Gruša. Oft habe ich mich mit ihm in mitteleuropäischer Art unterhalten, wobei ich ihm diesen Mangel eines Platzes – nach ihm benannt, in Prag – gesagt habe. Somit schlage ich vor, dass wir ein Komitee bilden, um wieder einmal eine Analogie zwischen Prag und Wien herzustellen, diesmal dem Dissidenten und Schriftsteller, dem Diplomaten und Kulturmenschen – nein dem Mitteleuropäer Jiří Gruša gewidmet. Er ist einer, der eben dieses Mitteleuropa in seinem Leben für uns alle verwirklicht hat. Dabei war das nicht immer ein glücklicher Begrifft, wie wir alle längst wissen. Wir sollten aber Mitteleuropa von den Belastungen der Geschichte befreien und es durch Persönlichkeiten ausgewiesen sehen, wie es eben Jiří Gruša ist. 

Wissenschaftlich ordentlich beginnt man immer mit einer Definition. Mitteleuropa geographisch zu definieren ist allerdings schwierig. Ich folge hier dem System der beweglichen Wände, denn jede Zeit hat eine andere Vorstellung von Mitteleuropa. Der Begriff ist auch belastet, denn Mitteleuropa war ein Begriff, den Friedrich Naumann 1915 bei der Entwicklung eines Konzeptes für das Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte und der daher von vielen als belastet angesehen wird. Leichter ist es im Englischen und Französischen, denn mit „Central Europe“ und „l’Europe centrale“ verbindet man ebenso wenig historische Perspektiven wie mit „Střední Evropa“ oder „Köszép Europa“. Wir erleben heute überhaupt eine semantische Konfusion, denn der rumänische Staatspräsident Iliescu meinte vor kurzem, dass Südosteuropa eben nicht Südosteuropa, sondern Südmitteleuropa sei, während die andere Bezeichnung für die kaukasischen Staaten die richtige wäre. Die Europäische Kommission bezeichnet einen Teil der Region als Westbalkan, was man in keinem Geschichts- und Geographiebuch finden kann. Die Italiener wieder sprechen von der östlichen Adriaregion und außerdem bestreiten etwa die Kroaten überhaupt, dazuzugehören. Anstelle dessen kommen romantische Definitionen auf, wie die mehr auf die alte Habsburger Monarchie orientierte, dass dort, wo Barockkirchen, Dreifaltigkeitssäulen und Nepomuk-Statuen auf Brücken stehen, auch Mitteleuropa zu finden sei. Alexander Gieysztor, dem bedeutenden polnischen Kunsthistoriker, verdanke ich den Satz:

Mitteleuropa ist überall dort, wo Kaspar, Melchior und Balthasar auf dem Türbalken steht, man unter Federbetten schläft und einer Frau eine ungerade Anzahl von Rosen schenkt.

Mitteleuropa aber gibt es, wobei das gerade für die Literatur und die Sprachwissenschaften von entscheidender Bedeutung ist. 

Die Zunge reicht weiter als die Hand
Dem Polen Stanislaw Jerzy Lec sind manch scharfe Aperçus zu verdanken, dieser von Karl Dedecius übertragene Satz zur Reichweite des Wortes erfasst aber eine unendlich wichtige politische Weisheit. Es ist außer Frage, dass Literatur viel von dem vermittelt, was moderne Gesellschaftswissenschaften trotz aller Raffinesse der heutigen Forschungstechnik nie transportieren können: das Gefühl für Atmosphäre, geschichtliche Wurzeln und Perspektiven von Entwicklungen und letztlich ein inneres Verstehen einer Situation. Dass sich unser Zeitalter mit dem Emotionalen und daher auch oft mit dem Wort trotz der allgemeinen Logorrhöe schwertut, wird niemand bestreiten. Darin ist wohl einer der Gründe zu sehen, warum sich niemand aus dem „Westen“ für jene Literatur interessierte, die in einem reichen Ausmaß in Mittel-, Ost- und Südosteuropa gediehen ist und gedeiht. Hätte man etwa rechtzeitig den serbischen Schriftsteller und Kurzzeit-Staatspräsidenten von Miloševic’ Gnaden Dobrica Čošić früher gelesen, wäre manches an unterschiedlichem Geschichts- und Weltverständnis zwischen Serbien und dem Rest von Europa früher sichtbar geworden, auch hätte man Strategien entwickeln können, um dem zu begegnen. Čošić hat eine fast triumphalistische Geschichtsauffassung seines Landes präsentiert, das dem Leid der Serben eine moralische Überlegenheit gegenüber Europa zugrunde legt, eine sozialistische Gesellschaftsauffassung begründet und Kampf und Krieg rechtfertigt. Persönlich bin ich überzeugt, dass diese Ignoranz des freien Europas gerade gegenüber den „Schluchten des Balkans“ sehr stark war und ist und wahrscheinlich das Bild vieler von der Erinnerung an die Karl-May-Lektüre in der Jugend geprägt ist, vermehrt um Horrorbilder der elektronischen Medien, und so ein differenziertes Urteil über diese Region verhindert. Den heutigen Transformationsstaaten Polen, Tschechische Republik, Ungarn, aber auch Russland wurde mehr Interesse entgegengebracht, weil es eine durchgehende Tradition der Übersetzung ins Deutsche gegeben hat. So unterscheidet sich die Perzeption Ostmitteleuropas und Osteuropas auch im Literarischen sehr wesentlich und schon lange vom Südosten des Kontinents. 

 Aus für Mitteleuropa?
Ein runder Tisch vor 16 Jahren in Polen sowie das Durchschneiden des Eisernen Vorhangs an der ungarisch-österreichischen Grenze haben eine Veränderung eingeleitet, die Europa eine große Chance brachte, die bei weitem noch nicht bewältigt ist, aber dazu einlädt, die Befindlichkeit Mitteleuropas zu analysieren. Mitteleuropa war in der Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs die große Brücke, über die Europäer von beiden Seiten aufeinander zugegangen sind. Insbesondere die Dissidenten und Intellektuellen Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns sowie Sloweniens und Kroatiens waren es, die Mitteleuropa als eine Metaebene des Geistes benützten, um über die politischen Trennlinien hinweg ihre europäische Zugehörigkeit zu deklarieren und bei uns einzumahnen. Václav Havel und György Konrad, Andrzej Szczpiorski und der Slowenische Schriftstellerverband waren es, die zu einer Wiederbelebung der Vorstellungen von Mitteleuropa führten, nachdem die Befindlichkeit dieser Region unseres Kontinents unter der Ost-West-Teilung nach 1945 de facto nicht mehr existent war. Hier liegt das große Verdienst der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die nicht nur die politischen Spannungen in Europa reduzieren wollte, sondern mit dem legendären „Korb drei“ durch Kulturkontakt das Gemeinsame in Europa über den Eisernen Vorhang hinweg gefördert hat. Jiří Gruša war es, der auf der berühmten Budapest-Konferenz zu Korb drei ganz wesentlich beigetragen hat, wenngleich diese HelsinkiInitiative nie einen Abschluss erhalten hat. Das ist aber gerade das Mitteleuropäische daran, weil hier nie etwas fertig wird und trotzdem in Bewegung kommt.
Manche der Kommentatoren waren nach dem Jahr 1989 der Meinung, dass durch die Bereitschaft der Transformationsstaaten, in den europäischen Integrationsprozess einzutreten, Mitteleuropa jegliche Aktualität verloren habe. Die Situation ist aber in Wirklichkeit umgekehrt. Die Entwicklung des gesamten Kontinents steht auf dem Prüfstand. Wenn es nicht gelingt, europäische Integration durchzuführen, also die Mitte Europas so zu stabilisieren, wird auch das neue Antlitz Europas politisch, wirtschaftlich und geistig-kulturell nicht geschaffen werden können. Damit sind sicher Fragen verbunden.
Der bisherige Integrationsprozess war durch das Verhältnis zum atlantischen Partner, zu den USA gekennzeichnet. Es war quasi eine Westorientierung, die uns alle beherrscht und schließlich auch dazu geführt hat, dass Demokratie und Freiheit in unserem Teil Europas erhalten geblieben sind. Die Ereignisse der letzten Zeit, nämlich die Labilität Russlands, die Balkankriege und die ungelöste Frage, wie weit Europa überhaupt reicht, hat uns die Mitte des Kontinents mehr ins Bewusstsein gebracht. Auch die Verlegung des deutschen Regierungssitzes nach Berlin hat eine Verschiebung des Schwerpunkts unseres Kontinents zur Folge.
Die Landkarten haben sich verändert, neue (alte) Staaten sind in der Mitte Europas entstanden und alte Probleme wieder aufgetaucht. Es handelt sich dabei nicht um einen Neonationalismus, sondern um jenen Nationalismus aus dem 19. Jahrhundert, der die längste Zeit im Gefrierfach des Kommunismus lag, jetzt wieder auftaut und genauso bewältigt sein will, wie die Probleme, die wir früher in anderen Teilen Europas hatten und noch haben. Mitteleuropa kann dafür eine Chiffre sein, das Zusammenleben in Vielfalt zu garantieren, wobei die ökonomische Komponente allein nicht genügt. Der Niedergang des Kommunismus wurde durch einen geistigen Prozess ermöglicht, der durch die Charta 77, durch Solidarność, Magyar Demokrata Forum und andere Bewegungen gekennzeichnet gewesen ist. Das Sich-Wiederfinden Europas kann auch nur durch eine geistige Bewegung eingeleitet werden, denn es kann etwa unseren Kontinent nicht geben ohne das slawische Element, ohne die geistig-kulturellen Leistungen, die in all diesen Ländern erbracht wurden. Vergessen wir nicht, dass die Französische Revolution ihre Deklaration der Menschenrechte auf einem polnischen Verfassungsdokument aufgebaut hat. Erinnern wir uns doch, welch produktives geistiges Leben etwa in Prag stattgefunden hat, in einer Durchmischung slawischer, deutscher und jüdischer Elemente. Den Ungarn, Slowenen und Kroaten absprechen zu wollen, dass sie Europäer sind, heißt in Wirklichkeit, den Reichtum Europas zu verkennen. All das steht auch zur Debatte, nicht nur die Frage der Erweiterung der Europäischen Union, der Übergangsfristen, der europäischen Probleme und die Frage der Sicherheit. Man braucht Mitteleuropa nicht als plakativen Titel zu führen, sondern sich lediglich darüber im klaren sein, dass die Mitte Europas Stabilität braucht, um dem gesamten Kontinent seine eigene Existenz zu sichern, Wir werden nicht sehr erfolgreich sein, stabile politische Strukturen in Russland zu erreichen, wenn sie schon in der Nachbarschaft dieses großen europäischen Partners nicht existieren. Wir werden keinen Erfolg haben, der islamisch-arabischen Welt zu begegnen, wenn wir die Brückenfunktion Südosteuropas nicht erkennen. Das alles aber haben die europäischen Ankerpunkte in der Mitte des Kontinents. Dort beginnt der Weg, den wir zu beschreiten haben, um überhaupt in diesen Richtungen anzukommen. Eine gewaltige europäische Herausforderung – aber wird sie auch erkannt?
Was wir für den heutigen Zustand Europas lernen können, ist wohl die Unterschiedlichkeit der Beziehungen zu den Mitmenschen. Wann bezeichnen wir heute jemanden wirklich als Nachbarn? Wenn wir Haus an Haus mit ihm wohnen? Oder ist auch einer ein Nachbar, der im Nachbarland zu Hause ist, in der Geschichte möglicherweise oft unser Schicksal geteilt hat und mit dem uns heute wieder ein gemeinsames Interesse verbindet? Was ist uns an ihm fremd und was kennen wir? Was lassen wir an ihm fremd sein, um uns nicht mit ihm auseinandersetzen zu müssen? Wer ist uns als Gastfreund willkommen, und wer ist willkommen, vielleicht bleibend unser Freund zu werden? 

Jiří Gruša ist ein Freund – ein Freund vieler und von vielen. Franz Grillparzer hat im „Bruderzwist in Habsburg“ seinem Kaiser Rudolf einem Freund eine Auszeichnung verleihen lassen, die den Akkord der Zeichen, die wir in uns tragen, zum Ausdruck bringen sollte – „unsichtbar zu tragen“. Jiří Gruša ist so einer, der längst eine solche Auszeichnung für unser Europa in sich trägt. Vielleicht aber sollte es doch Sichtbarkeit geben! Also: Ich fordere alle auf, dem Komitee beizutreten, das einen Jiří-Gruša-Platz in Prag durchsetzt. 

Das ist ein Zeichen für Europa!

Erhard Busek, aus Wolfgang Greisenegger & Wolfgang Lederhaas (Hrsg.): Antworten. Jiří Gruša zum 70. Geburtstag, Wieser Verlag, 2008

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + DAS&DIMDb +
Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Jiří Gruša:

 

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