Jürgen Busche: Zu Gottfried Benns Gedicht „Verlorenes Ich“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gottfried Benns Gedicht „Verlorenes Ich“ aus Gottfried Benn: Statische Gedichte. –

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Verlorenes Ich

Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,
Opfer des Ion –: Gamma-Strahlen-Lamm –
Teilchen und Feld –: Unendlichkeitsschimären
auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.

Die Tage gehn dir ohne Nacht und Morgen,
die Jahre halten ohne Schnee und Frucht
bedrohend das Unendliche verborgen –
die Welt als Flucht.

Wo endest du, wo lagerst du, wo breiten
sich deine Sphären an – Verlust, Gewinn –:
ein Spiel von Bestien: Ewigkeiten,
an ihren Gittern fliehst du hin.

Der Bestienblick: die Sterne als Kaldaunen,
der Dschungeltod als Seins- und Schöpfungsgrund,
Mensch, Völkerschlachten, Katalaunen
hinab den Bestienschlund.

Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten
und was die Menschheit wob und wog,
Funktion nur von Unendlichkeiten –
die Mythe log.

Woher, wohin – nicht Nacht, nicht Morgen.
kein Evoë, kein Requiem,
du möchtest dir ein Stichwort borgen
– allein bei wem?

Ach, als sich alle einer Mitte neigten
und auch die Denker nur den Gott gedacht,
sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten,
wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht,

und alle rannen aus der einen Wunde,
brachen das Brot, das jeglicher genoß –
oh ferne zwingende erfüllte Stunde,
die einst auch das verlorne Ich umschloß.

 

 

Die Meldung zum Ende des Humanismus

Dieser Leitartikel in Strophen, geschrieben 1943, als Benn, der Oberstabsarzt, in Landsberg an der Warthe stationiert war, erschien zuerst fünf Jahre später im Band Statische Gedichte. Aber schon Mitte der fünfziger Jahre zitiert das Gedicht der Altphilologe Karl Reinhardt in einem Essay über Euripides und die Sinnkrise. Und wiederum schon 1962 gibt es diesen Essay in einer populären Taschenbuchausgabe mit kleinen Arbeiten Reinhardts, der Titel: Die Krise des Helden. Es ist dies das Jahr, das man mit einigen Gründen als den Beginn der Studentenbewegung in Deutschland ansprechen kann. Der Leitartikel wenigstens hatte seinen Sinn erfüllt: zum Nachdenken anregen.
Was das Gedicht mitteilte, hatten zur gleichen Zeit bedeutende, einander abschätzig begegnende Philosophen in komplizierten Texten ebenfalls aufgeschrieben und vorgetragen, aber so wenig sie dabei voneinander wußten, so wenig dürfte Benn in den letzten Kriegsjahren davon erfahren haben. Es sind zudem bei den Autoren – neben Benn Heidegger sowie Horkheimer und Adorno – sehr unterschiedliche Denkwege, die zu demselben Befund führen.
Die Diagnose „Verlorenes Ich“ zielt auf das Ende des Humanismus. Kann man für dessen Kernaussage den Vers Alexander Popes nehmen, „The proper study of mankind is man“, oder Goethes Wort zu seiner Iphigenie „Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit“, so scheint es nun damit vorbei zu sein. In der Geschichte, auch im Studium ist der Mensch dem Menschen abhanden gekommen:

Die Welt zerdacht.

In der letzten der acht Strophen seines Diagnoseberichts fragt Benn resignierend:

Du möchtest dir ein Stichwort borgen –
allein bei wem?

Doch in den voraufgegangenen 22 Zeilen hat er selber zwei Stichworte geliefert: Je dreimal ist da von Unendlichkeit und von Bestien die Rede. Unendlichkeit als Gefahr. Reinhardt assoziiert zu dem opponierenden „allein“ Goethes Mignon-Lied:

Ich möchte Dir mein ganzes Innre zeigen,
Allein das Schicksal will es nicht.

Aber, bemerkt der Gelehrte, „wie verändert, um nicht zu sagen abgebrannt ist die Ausweglosigkeit bei Benn!“ Das Schicksal des einzelnen ist das Schicksal des Zeitalters geworden. Hölderlin hatte einst in seinem Gedicht „An die Deutschen“ geschrieben:

Unserer Jahre Zahl sehen und zählen wir,
Doch die Jahre der Völker,
Sah ein sterbliches Auge sie?

Diese Zeilen zitiert Martin Heidegger am Ende seines Vortrags von 1938 über „Die Zeit des Weltbilds“, darin geht es um eine neue Ungewißheit, seit „der Mensch zum Subjectum geworden ist und die Welt zum Bild“. Es ist damit auch schon das Ende dieser Zeit angedeutet, was mit einschließt das Ende des Humanismus, „der heraufkommt, wo die Welt zum Bild wird“. Und er ist desavouiert, wo die Bilder geschichtlich zu Schreckensbildern werden, wie Benn es in seinem Gedicht zeigt.
Zur selben Zeit, als der Dichter über diesen Zeilen saß, schrieben in New York Adorno und Horkheimer ihre Texte zur Dialektik der Aufklärung (1943/44), ein Buch tiefster Verzweiflung und fern von dem rationalistischen Optimismus, der die Zeit des Weltbilds, der wissenschaftlichen Revolutionen und politischen Emanzipationsbewegungen begleitet hatte. Gerade dieses Buch aber wurde eines der meistgelesenen der Studentenbewegung.
Anders als den mit ihren Gedanken gleichzeitig hervortretenden Philosophen geht es dem Dichter jedoch nicht nur um die Erkenntnis des Zeitzustands. Er schließt sein Gedicht mit einer sehnsuchtsvollen Erinnerung, die allerdings nicht den besseren Tagen der humanistischen Epoche gilt. Er wendet sich den Zeiten zu, in denen „der Hirte und das Lamm“ die Mitte des Lebens bildeten, längst ebenfalls verloren. Der antikisch gesinnte Goethe hätte und hat solche Rückbesinnung verabscheut. Benn 1943 stört das offensichtlich nicht. Denn auch „die Mythe log“.

Jürgen Buscheaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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