Karl Riha: Zu Wolfgang Borcherts Gedicht „Großstadt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolfgang Borcherts Gedicht „Großstadt“ aus Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. –

 

 

 

 

WOLFGANG BORCHERT

Großstadt

Die Göttin Großstadt hat uns ausgespuckt
in dieses wüste Meer von Stein.
Wir haben ihren Atem eingeschluckt,
dann ließ sie uns allein.

Die Hure Großstadt hat uns zugeplinkt –
an ihren weichen und verderbten Armen
sind wir durch Lust und Leid gehinkt
und wollen kein Erbarmen.

Die Mutter Großstadt ist uns mild und groß –
und wenn wir leer und müde sind,
nimmt sie uns in den grauen Schoß –
und ewig orgelt über uns der Wind!

 

Einzelanalyse

Hamburg ist der Zielort in Heinrich Heines Deutschland, ein Wintermärchen: nach zwölfjährigem Ausland-Exil kehrte der Dichter im Herbst 1843 erstmals wieder in seine – kurz zuvor durch einen großen Brand heimgesuchte und stark zerstörte – Heimatstadt zurück. Bei seiner nächtlichen Wanderung durch die Straßen der Stadt stößt der Autor – im Kapitel über „Großstadtlyrik-Anthologien“ habe ich kurz darauf verwiesen – auf ein „hochbusiges Frauenzimmer“, mit rundem und kerngesundem Antlitz, Augen wie blauen Turkoasen, Wangen wie Rosen, einem Mund wie Kirschen, aber auch „etwas rötlich die Nase“:

Ihr Haupt bedeckte eine Mütz
Von weißem gesteiftem Linnen.
Gefältelt wie eine Mauerkron,
Mit Türmchen und zackigen Zinnen
.1

Sich als „anständige, moralische Person“ herausstreichend, keine „so eine kleine Mamsell, / So eine welsche Lorettin“, gibt sich die Figur als Hammonia, „Hamburgs beschützende Göttin“ zu erkennen; nichtsdestotrotz steigt ihr der Autor weiter nach und folgt ihre über die enge Treppe sogar in ihre Kammer. Nach einigen Gläsern Tee mit Rum bzw. Rum pur läßt sie ihr Haupt – („die Mauerkrone, / Die Mütze, ward etwas zerknittert davon“) – an die Schulter des Dichters sinken und weissagt ihm später – („Ich glaube, in die Krone / Stieg ihr der Rum“) – die Zukunft Deutschlands aus den Tiefen eines Klosettstuhls. Der eigenen Mutter aber hatte der zurückgekehrte Dichtersohn gleich als erstes, also schon einige Kapitel früher, seinen Besuch abgestattet:

Und als ich zu meiner Frau Mutter kam,
Erschrak sie fast vor Freude;
Sie rief: „mein liebes Kindl“ und schlug
Zusammen die Hände beide.

Der literaturgeschichtliche Hinweis, der exakt hundert Jahre hinter die Entstehung des „Großstadt“-Gedichts von Wolfgang Borchert zurückgeht, ist so abwegig nicht, und nicht nur motivische, sondern sogar biographische Parallelen lassen sich ziehen! Was für Heine das Pariser Exil, aus dem er nach Hamburg kommt, und dort die Spuren des großen Brandes von 1842, das ist für Borchert die Inhaftierung durch die Nationalsozialisten und die noch weitergehende Zerstörung der Stadt durch Bombenangriffe Ende Juli, Anfang August 1943. Peter Rühmkorf bezieht denn auch in seiner Borchert-Biographie beide Autoren in ihrer Hamburg-Fixierung sehr direkt aufeinander: „Seit dem Emigranten Heine“, schreibt er, ist „die Stadt Hamburg nie wieder mit solch werbender Schwärmerei, mit solcher Inbrunst angedichtet worden wie jetzt von dem über Jahre Umgetriebenen, dem Zwangsvaganten, dem unsteten Heimkehrer“:2

Trotzdem macht es Schwierigkeiten, beide Texte in allzu große Nachbarschaft zu bringen; mit Sicherheit hat Borchert die entsprechenden Passagen in Heines Deutschland, ein Wintermärchen allenfalls vage assoziiert, einen unmittelbaren Anstoß für seine eigenen Verse gaben sie nicht ab. Auch sind die allegorischen Personifikationen „Göttin Großstadt“, „Hure Großstadt“ und – etwas abgegrenzt davon – „Mutter Großstadt“, die den Aufbau des Gedichts in seinen drei Strophen so klar bestimmen, ja nicht in dem Maß durch Heine vorgeprägt, daß andere Einflüsse ausscheiden müßten, sondern lassen sich in der Geschichte der deutschen Großstadtlyrik und überhaupt der deutschen Großstadtliteratur an verschiedenstem Ort belegen. Hinzukommt: während Heine die Schutzgöttin Hamburg – Hammonia ironisch-satirisch ins Dirnenmilieu hinüber changieren läßt, setzt Borchert diese Charakterisierungsrollen stärker gegeneinander ab, addiert sie sozusagen, ohne sie zu überblenden. Und mit „Mutter Großstadt“ gewinnt er eine übergeordnete – positive – Kategorie: „hat uns ausgespuckt“ und „hat uns zugeplinkt“ – der einzige und noch dazu indirekte Hinweis auf Hamburg – stehen in der Vergangenheit, „ist uns mild und groß“ dagegen im Präsens.
,Göttin‘, ,Hure‘, ,Mutter‘: diese drei – einprägsamen – Kennzeichnungen scheinen zunächst ein wechselndes erlebnishaftes Verhältnis zur Großstadt, zu Hamburg – etwa nach dem Muster ,früher-später‘ – anzudeuten. Dies stützt eine kurze Erzählung, „Hamburg“ überschrieben, in der sich ein ganz ähnliches, sogar noch verstärktes Operieren mit Großstadt-Metaphern und Großstadt-Allegorien zeigt, wobei es dem Autor auch hier um ihre Häufung und eine gewisse Steigerung geht. Es heißt da – in fast schon lyrischer Prosa:

Hamburg, Stadt: Steinwald aus Türmen, Laternen und sechsstöckigen Häusern; Steinwald, dessen Pflastersteine einen Waldboden mit singendem Rhythmus hinzaubern, auf dem du selbst noch die Schritte der Gestorbenen hörst, nachts manchmal.

Stadt: Urtier, raufend und schnaufend, Urtier aus Höfen, Glas und Seufzern, Tränen, Parks und Lustschreien – Urtier mit blinkenden Augen im Sonnenlicht: silbrigen, öligen Fleeten! Urtier mit schimmernden Augen im Mondlicht: zittrigen, glimmernden Lampen!

Stadt: Heimat, Himmel, Heimkehr – Geliebte zwischen Himmel und Hölle, zwischen Meer und Meer; Mutter zwischen Wiesen und Watt, zwischen Teich und Strom; Engel zwischen Wachen und Schlaf, zwischen Nebel und Wind: Hamburg!3

Hamburg sei mehr als ein „Haufen Steine, Dächer, Fenster, Tapeten, Betten, Straßen, Brücken und Laternen“, lesen wir einleitend, und weiter:

Das ist mehr als Fabrikschornsteine und Autogehupe – mehr als Möwengelächter, Straßenbahnschrei und das Donnern der Eisenbahnen – das ist mehr als Schiffssirenen, kreischende Kräne, Flüche und Tanzmusik – oh, das ist unendlich viel mehr.

Die tiefere Bindung an die Stadt, die er damit für sich in Anspruch nimmt, führt Borchert im Prosa-Ausschnitt wie im „Großstadt“-Gedicht auf wirkungsvolle Weise vor: jeweils in kontrastiver, differenzierender und nicht zuletzt wertender Bilder-Trias! Doch sofort ist anzumerken, daß es sich bei solchen Arrangements ja um keine individuell geprägten Eindrücke, sondern, wie gesagt, um eine Versammlung weitgehend bekannter Großstadt-Etikettierungen handelt – jedenfalls dem Ansatz nach! Genauere Festlegungen sind daher nur möglich, wenn man sich auf die Tradition, in der sie stehen, einläßt.
Anders als nach dem Ersten Weltkrieg ist es nach 1945 zu keiner politischen und keiner literarischen Revolution gekommen. Sieht man vom Schlagwort der ,Kahlschlag‘-Literatur ab, dem einige Autoren mit bewußt ,reduktionistischen‘ Texten zu entsprechen suchten, erscheint die unmittelbare Nachkriegsliteratur geprägt durch die relative Kontinuität der Dichtung der sogenannten ,inneren Emigration‘ und durch Stilwiederholungen, wobei der Rekurs auf den Expressionismus besonders hervorzuheben ist. Borchert macht hier keine Ausnahme! Und so ist denn auch das die erste Strophe dominierende Bild des „Großstadt“-Poems über die vertraute Vorstellung einer Stadt-Schutzgöttin hinaus auf jene mythologisierende Großstadtlyrik fixiert, für die Georg Heym das herausstechende Paradigma geliefert hat: dem ,Gott der Stadt‘ stellt sich hier freilich ein weibliches Pendant zur Seite. Nicht anders die „Hure Großstadt“ in der zweiten Strophe. Dirnen gehören in der expressionistischen Lyrik und Prosa zum festen Personalbestand der Großstadtszenerie und erhalten früh einen zeichenhaft-symbolischen Charakter; in diesem Sinn hat Alfred Döblin in Berlin Alexanderplatz die Rede von der „großen Hure Babylon“ zum stehenden Bestand seiner montierenden Roman-Schreibweise und damit zum strukturellen Prinzip seiner Großstadtdarstellung erhoben.
Geht man dem Vergleich jedoch detaillierter nach, kommt man rasch auch auf Unterschiede. Vor allem in den verbalen Elementen, die aus den allegorischen Stadtbildern erst lebendig agierende Personen machen, zeigt sich eine Dynamik, die sich nicht – oder nicht voll – mit der überkommenen Stillage deckt und damit einen literarischen Eigenwillen signalisiert. Eine Göttin, die ,spuckt‘, verliert nicht nur ihre hehre Erscheinung, sondern büßt auch etwas von ihrem furchterregenden Charakter ein. Besonders mit Blick auf das ,zugeplinkt‘ in der zweiten Strophe spricht Rühmkorf deshalb davon, daß sich bei aller Künstlichkeit des Stils und allem Hang zum Abstrakten, zur Rhetorik, zum Kunstpathos und zur Manier Borcherts Dichtung doch „aus der eingeborenen, aus der Sprache der Kindheit, aus den Ressourcen des Alltags und der Heimat“ speise:

Es wäre also auch von hier aus fehlgedeutet, wollte man in Borchert nur den rezidivierenden Expressionismus sehen; denn bei aller Verwandtschaft mit den Heym und Lotz und Boldt und Benn, mit dem ,ewigen Schlemihl‘ Ehrenstein, dem ,Poeta Ahasverus‘ Wegner ist es gerade das ortsgebunden Konkrete, das intim Lokalgefärbte, was hier zu gutem Teil stilbestimmend wird.4

Und mit der Empfänglichkeit fürs Umgangssprachliche rauht sich die Bildsprache des Gedichts auch für Zeitbezüge auf und gibt – jedenfalls für den zeitgenössischen Leser – Assoziationen Raum, in denen der traurige Jetzt-Zustand der Stadt stärker berücksichtigt ist, als es die ausgedruckte Formulierung als solche verrät: deshalb saugen an sich konventionelle Wendungen wie „dieses wüste Meer von Stein“ oder „sind wir durch Lust und Leid gehinkt“ etwas von der Trümmerlandschaft rundum und von den schmerzhaften Erfahrungen der Kriegs- und frühen Nachkriegsjahre in sich auf.
Nicht im Expressionismus vorgeprägt ist hingegen die Rede von der „Mutter Großstadt“, die Borchert als Fluchtpunkt seines Gedichts einsetzt. Vermutlich handelt es sich um eine Übertragung. Der Dichter hält sich stärker an eine Lyriktradition in größerem Rahmen, als es das Stadt- oder Großstadtmotiv erlaubt, an Gedichte, in denen generell von Deutschland im Bild der ,Frau‘ und ,Mutter‘ die Rede ist. Er wendet sich dabei gegen den Mißbrauch, den die Nationalsozialisten – aus völkischer Ideologie heraus – mit solchen Vorstellungen getrieben hatten. Schon die Pietà-Positur als solche ist ein deutliches Gegenbild, und erst recht stützen vage Anklänge an Autoren der antinationalistischen Literatur und der Literatur des Widerstands diesen Gegenimpuls. In seinem „Nachtgedanken“ überschriebenen „Zeitgedicht“ etwa hatte schon Heine das Land, aus dem er vertrieben war, und die Erinnerung an die ferne Mutter zu einer beziehungsreichen Einheit verschmolzen; und Brecht hatte 1933 sein Gedicht „Deutschland“ wie folgt eröffnet:

O Deutschland, bleiche Mutter!
Wie sitzest du besudelt
Unter den Völkern.
Unter den Befleckten
Fällst du auf.
5

Borchert läßt das Moment der Anklage wieder zurücktreten hinter der Schutz- und Fluchtfunktion der Figur: sie wird als „mild und groß“ gekennzeichnet, aber mit ihrer äußeren Erscheinung kontrastiert der „graue Schoß“, der wenig von einem Geburts- und viel von einem Sterbeort an sich hat.
Auch für die einprägsame Schlußzeile der dritten Strophe und damit des ganzen Gedichts kann man Brecht zum Vergleich und zum Kontrast beiziehen. „Von diesen Städten“, heißt es in der schon 1921 entstandenen Ballade „Vom armen B.B.“, mit der die Hauspostille von 1927 schließt, „wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!“6 In einer großen poetischen Geste wird die Großstadt, werden die ,großen Städte‘ nicht nur mit ihrer eigenen Vergänglichkeit konfrontiert, sondern allgemein in den Prozeß der Geschichte hineingestellt, den Kräften der Veränderung anheimgegeben. Borcherts ebenfalls sich festhakende Formulierung „und ewig orgelt über uns der Wind!“ fehlt diese aufreißende Dynamik, sie kippt ja auch aus der welthaltig-horizontalen in die existenziell-vertikale Richtung um und bannt – „über uns“ – ein Verlorensein, dem man nicht entgehen, vor dem man nur auf Zeit Schutz suchen kann. Die Desillusion geht freilich ein Stück weiter, als dies sonst bei der Mehrzahl der Literaten der ersten Stunde nach dem ,Zusammenbruch‘ oder der ,Katastrophe‘ – wie man damals sagte – der Fall war.
Das läßt sich im Kontrast zu einem Lied dokumentieren, das Hans Albers (1892–1960) in dem Trümmerfilm von Helmut Käutner (1908–1980) Und über uns der Himmel 1947 – also im zeitlichen Umkreis der Gedichtsammlung Laterne, Nacht und Sterne, aus dem das „Großstadt“-Gedicht genommen ist – sang:

Es weht der Wind von Norden. Er weht uns hin und her!7

Auch hier findet man das notgemeinschaftliche ,wir‘ und ,uns‘; anders aber als Borchert hält hier der Verfasser – Michael Freytag (Lebensdaten unbek.) – dem Druck der Schicksalsmetapher nicht stand, sondern versucht, sie zu relativieren, durch raschen Aufbau-Optimismus zu kontern:

Der Wind weht von allen Seiten.
Na, laß den Wind doch wehn –
denn über uns der Himmel
läßt uns nicht untergehn!

Karl Riha, in Karl Riha: Deutsche Großstadtlyrik, Artemis Verlag, 1983

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