Klaus-Peter Walter: Zu Hugo Balls Gedicht „Intermezzo“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hugo Balls Gedicht „Intermezzo“ aus Hugo Ball: Gesammelte Gedichte. –

 

 

 

 

HUGO BALL

Intermezzo

Ich bin der große Gaukler Vauvert.
In hundert Flammen lauf ich einher.
Ich knie vor Altären aus Sand,
Violette Sterne trägt mein Gewand.
Aus meinem Mund geht die Zeit hervor,
Die Menschen umfaß ich mit Auge und Ohr.

Ich bin aus dem Abgrund der falsche Prophet,
Der hinter den Rädern der Sonne steht.
Aus dem Meere, beschworen von dunkler Trompete,
Flieg ich im Dunste der Lügengebete.
Das Tympanum schlag ich mit großem Schall.
Ich hüte die Leichen im Wasserfall.

Ich bin der Geheimnisse lächelnder Ketzer.
Ein Buchstabenkönig und Alleszerschwätzer.
Hysteria clemens hab ich besungen
In jeder Gestalt ihrer Ausschweifungen.
Ein Spötter, ein Dichter, ein Literat
Streu ich der Worte verfängliche Saat.

 

Spötter, Dichter, Literat

Als ich, noch Schüler, dieses assoziationsreiche Gedicht entdeckte, war Hugo Ball, der von 1886 bis 1927 lebte, für mich nicht mehr der dadaistische Früh-Jandl der „Karawane“ mit seinem verspielten jolifanto bambla o falli bambla, sondern ein veritabler Achtundsechziger-Bürgerschreck.
Der Name seines Gauklers, wohl der Stadt Vauvert bei Nimes entliehen, schien mir auf den Ur-Vaganten François Villon anzuspielen, und so sah ich in diesem antiautoritären Sangesbruder zunächst einen Ahnherrn meiner damaligen Liedermacher-Idole Franz-Josef Degenhardt und Hannes Wader. Erst später entdeckte ich den gesellschaftskritischen Auftrag aller literarischen Tätigkeit unter den originellen Bildern des Gedichts.
Im Schatten des Ersten Weltkrieges entstanden, schildert es eine Zeit des Über- und Niedergangs, in der Neues noch außer Sicht ist, eine Zeit dazwischen, eben ein Intermezzo. Alle vier Elemente scheinen in Bewegung: die Erde (als Sand und Abgrund), das fallende Wasser, die vom „großen Schall“ erschütterte Luft und das als hundertfache Flammen und räderrollende Sonne gleich zwiefach lodernde Feuer. Statt Goethes Brudersphären Wettgesang Dissonanzen von Pauke und Trompete.
Vauvert nennt sich gleich in der ersten Zeile einen großen Gaukler, und alle drei Strophen beginnen mit den Worten ich bin. Wer ist dieses großspurige Ich? Klar: ein Provokateur, der mutwillig an die Tabus einer Welt rührt, deren religiöser Habitus zu bloßer Heuchelei zerronnen ist. Die Sterne auf seinem Gewand karikieren ketzerisch das klerikale Lila. Klar ist auch sein Standpunkt: jenseits der Lichtquelle, im Gegen-Licht, in Opposition. Manches an diesen Zeilen fordert zum Vergleich mit Puschkins Gedicht „Der Prophet“ heraus. Bei Puschkin schreitet ein echter, von einem sechsfachgeflügelten Seraphim beseelter Prophet im Bewußtsein seiner göttlichen Sendung gravitätisch in Jamben voran. Sein falscher Kollege Vauvert dagegen hüpft ohne festen Versfuß daher; Puschkins Prophet will durch sein Wort „die Herzen der Menschen entflammen“, Vauverts Wort dagegen zersetzt, es hilft als „verfängliche Saat“, die Widersprüche einer dem Wahn und dem Laster verfallenen Zeit bloßzulegen, lautstark Skandalöses publik zu machen: Die „Leichen im Wasserfall“ könnten die sprichwörtlichen „Leichen im Keller“ sein. Der, aus dessen Mund „die Zeit hervorgeht“, steht auf jenen Brettern, die bekanntlich diese Zeit bedeuten, ein Vorfahr somit von Wolfgang Neuss, dem legendären, Lärm schlagenden „Mann mit der Pauke“ und vielleicht auch ein alter ego Balls, wie er 1915 im Züricher Cabarett Voltaire auftrat, angetan mit einem bizarren Kostüm aus kubistischen Pappröhren und -würfeln, einen spitzen Gauklerhut auf dem Kopf.
In der Personalunion des Spötters mit dem Dichter und Literaten wird die Aufgabe des Schreibenden auf den Punkt gebracht. Er ist der kritische Deuter der Zeit-Zeichen, der den Menschen auf die Finger sieht, lieber Aufrührer und Störenfried denn langweilender Erfüllungsgehilfe amtlich-erzieherischer Vorführungen. Das galt, als Balls Zeitgenosse Johannes R. Becher in expressionistischem Pathos ausrief:

Oh du mein Schrei: auch Schrei der Zeit!

Es sollte auch heute noch gelten.

Klaus-Peter Walteraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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