Lars Gustafsson: Zu Edith Södergrans Gedicht „Mein Leben, mein Tod und mein Los“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Edith Södergrans Gedicht „Mein Leben, mein Tod und mein Los“. –

 

 

 

 

EDITH SÖDERGRAN

Mein Leben, mein Tod und mein Los

Ich bin nichts als ein unermeßlicher Wille,
ein unermeßlicher Wille, doch wozu, wozu?
Alles ist Dunkel rings um mich,
keinen Strohhalm vermag ich zu heben.
Mein Wille will eins nur, doch dies eine kenne ich nicht
Bricht mein Wille hervor, muß ich sterben:
seid mir gegrüßt mein Leben, mein Tod und mein Los.
(1919–1920)

 

Die rätselhaften Partikel im Kern

Gegen eine Aluminiummembran, groß wie der Nagel eines kleinen Fingers und dünn wie eine Seifenblase, aufgehängt in einem Rahmen am Ende eines langen, luftleeren Zylinders, beschleunigt der Physiker mit Hilfe großer Magnetfelder schwere Teilchen oder Partikel. Wenn diese Partikel in die kleine Galaxie der Aluminiummembran stürzen, ereignen sich Katastrophen. Auf unterschiedliche Energieniveaus geeichte Zählzylinder erfassen die stumme Antwort der Materie auf die Herausforderung. In der Zusammenfassung, die aus dem Drucker des Rechenspeichers kommt, sieht das normale elektronische Rauschen aus wie ein dichter Teppich. Aus diesem Teppich steigen Wellenkämme freigesetzter Energie, die anzeigen, daß der Atomkern selbst auf die Frage antwortet, die an ihn gerichtet wurde. Er versucht zu reden. Etwas versucht zu reden. Die Tiefe antwortet durch das Rauschen hindurch.
In dieser Welt gibt es keine Wirklichkeit. Es gibt die Daten von Experimenten, und es gibt einen Begriffshorizont, der sie zu deuten versucht. Beide sind veränderlich. Sie spielen zusammen.
Die Experimentalsituation selbst unterscheidet sich radikal von der normalen Natur.
Das einzige, was in einem kernphysischen Labor Natur ist, sind die schmalen Kämme, die in einem Diagramm aus dem Hintergrundrauschen aufsteigen.
Zwischen der Situation des Experimentalphysikers und der des Lyrikkritikers besteht eine tiefe Verwandtschaft.
Es gibt das normale sprachliche Hintergrundrauschen. Es gibt Rhythmen, Pulse, Resonanzniveaus. Es gibt wohlbekannte und überraschende Störquellen.
Und es gibt diese eigentümlich charakteristischen Signale, die durch ihr Aussehen verraten, daß sie aus einer größeren Tiefe kommen, aus Gegenden im Unterbewußtsein, die denen vorgelagert sind, wo Wörter geformt werden.
In der größten Tiefe eines Gedichts, jenseits aller sprachlichen und künstlerischen Konventionen gibt es ein Stück selbständiger Wirklichkeit, das auf den Anruf des Lesers zu antworten versucht. Das Rätsel eines Gedichts kann auf diese Weise mit dem Rätsel eines Menschen zusammenfallen.
Und nur die Lesart ist realistisch, die das Rätselhafte zu bewahren und es gleichzeitig vom Hintergrundrauschen zu isolieren vermag.

Edith Södergrans Gedicht ist von einem todkranken Menschen geschrieben. Wenn sie sagt, sie könne keinen Strohhalm heben, ist das mehr als eine poetische Metapher, es ist die Erfahrung eines Patienten mit hochgradiger Tuberkulose.
Wenn sie sagt, sie sei nichts anderes als ein unermeßlicher Wille, ergibt sich ein Paradox, das die ungeheure Spannung des Gedichts aufbaut, dennoch ist dies nur die Vorbereitung auf die weit größeren Paradoxe, die uns ein Stück weiter im Text entgegentreten.
Einer der großen Ideenimpulse für Edith Södergrans Dichtung ist die Philosophie Friedrich Nietzsches, der in Übereinstimmung mit seinem Lehrer Schopenhauer behauptete, die Substanz des Menschen sei ein reiner Wille. Nietzsches Wille hat tatsächlich sehr viel mit dem gemeinsam, was Sigmund Freud ein paar Jahrzehnte später als „Libido“ bezeichnen sollte und was der schwedische Dichter Stagnelius in seinem Jahrhundert in der Sprache eines anderen Jahrhunderts „die Macht zu begehren“ nannte.
Die fundamentale biologische Instabilität, die uns zu Menschen macht und uns das Überleben ermöglicht, hat viele Namen. Dieses seltsame Gefälle, das uns ständig bemüht sein läßt, den Zustand, in dem wir uns befinden, durch einen anderen zu ersetzen. Das Wort „Wille“ ist eigentlich außerordentlich abstrakt. Es schreit nach einer Präzisierung. Es gibt keinen Willen im allgemeinen. Kennzeichnend für jeden Willen ist, daß er etwas ganz Bestimmtes will. (Während die Furcht, ebenso wie die Trauer, ganz unbestimmte Gefühle sein können. Wie oft spüren wir nicht Angst, ohne zu wissen, worum die Angst kreist?)
Aber Edith Södergrans Rede von diesem unermeßlichen Willen, den sie mitten in ihrer Schwäche in sich spürt, ist natürlich nicht nur ein Reflex ihrer Nietzschestudien. Eher ist es so, daß Nietzsche sie befreit, ihr den Mut gegeben hat, mit einem so gelassenen Stolz zu erklären, daß es so ist.

Die erste Zeile des Gedichts ist keine philosophische Theorie, sie ist eine empirische Feststellung. Es liegt etwas Sensationelles, ja Erschütterndes darin, eine so ungeheure Sache in einem so gelassenen Tonfall auszusprechen. Es ist genau die Art von Äußerung, die normalerweise als Ausdruck von Hybris aufgefaßt würde, doch wird sie in einer Situation geäußert, die den Gegenden des Übermuts so fern liegt, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann.
Und so kommen wir zu dem großen Paradox, der Unregelmäßigkeit in einem sprachlichen Rauschen, die uns anzeigt, daß hier unter der Oberfläche eine gewaltige Verdichtung liegt, sich hier der Raum um einen Körper von seltsamer Schwerkraft krümmt:

Mein Wille will eins nur, doch dies eine kenne ich nicht.

Das Rätselhafte dieser Gedichtzeile liegt weder in den einzelnen Wörtern noch in ihrem Zusammenhang. Es gibt nichts – Dunkles – in dem, was gesagt wird. Das Rätselhafte darin ist genuin. Es ist ein Teil der ewig immanenten Rätselhaftigkeit menschlicher Existenz.
Und dann kommt, folgerichtig, ist man versucht zu sagen, obwohl man nicht weiß, in welcher seltsamen Logik solche Folgeverhältnisse herrschen, der Schlußsatz:

Bricht mein Wille hervor, muß ich sterben.

Bei einer allzu oberflächlichen Lektüre könnte man dieses Gedicht mit einem klassischen poetischen Genre verwechseln: Gedichten über die Todessehnsucht. Dazu aber gehört es nicht. Nicht der Tod ist es, den sich die Dichterin wünscht. Was sie sagt ist, daß sie einen einzigen Wunsch hegt, der ihr selbst unbekannt ist. Und wenn er hervorbricht, wenn er sich artikuliert, muß sie sterben. Das Unbekannte in ihrem Wunsch ist es, was sie am Leben erhält. – „Ich ersehne das Land, das nirgendwo ist“ hat sie in anderem Zusammenhang geschrieben.

Auffällig ist, daß das Wort „Wille“ im Gedicht konsequent in seiner ursprünglichen, seiner unverfälschten Bedeutung gebraucht wird, als ein Ausdruck dessen, was man selbst will. Es gibt eine abgeleitete oder sekundäre Bedeutung, der zufolge das Wort häufig als Ausdruck dessen gebraucht wird, von dem andere wollen, daß man es tut.
„Wenn ihr etwas mehr Willen hättet, Jungs, würdet ihr sicher ein besseres Ergebnis über die 400 Meter erzielen“, sagt der Sportlehrer. Was er meint ist: „Wenn ihr wolltet, was ich will, wärt ihr sehr viel bessere Jungs in meinem Wertsystem“, was streng genommen eine Tautologie ist. In dieser denaturierten Version seiner ursprünglichen Bedeutung meint „Wille“ ungefähr das gleiche wie „Pflicht“ und also paradoxerweise das Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung. Zu wollen, was man eigentlich nicht will.
Liest man diese Bedeutung in Södergrans Wort „Wille“ hinein, so wird die Zeile „Mein Wille will eins nur, doch dies eine kenne ich nicht“ bis zur Unkenntlichkeit trivialisiert. Sie bedeutete dann ungefähr: ich weiß nicht, was man von mir verlangt. An diesem Punkt wird es wichtig zu wissen, daß Edith Södergran Nietzscheanerin war. Mit „mein Wille“ meint sie nicht „was andere von mir verlangen“. Sie spricht von einem Verlangen. Darin liegt das Wunderbare und Rätselhafte ihres Gedichts.

Lars Gustafsson, die horen, Heft 170, 2. Quartal 1993
Aus dem Schwedischen von Klaus-Jürgen Liedtke

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