Alfred Lichtensteins Gedicht „Die Dämmerung“

ALFRED LICHTENSTEIN

Die Dämmerung

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

1911

 

Konnotation

Von seinen expressionistischen Dichterfreunden, die in ihren Gedichten mit moralistischem Pathos auftrumpfen, unterscheidet sich Alfred Lichtenstein (1889–1914) durch einen Ton der ironischen, oft sarkastischen Beiläufigkeit, mit dem er die Fremdheit des Daseins besingt. Die Elemente seines 1911 entstandenen Gedichts wirken wie zufällig aneinander gereiht und sind beliebig austauschbar; nichts scheint in diesem grotesken Szenario mehr zusammenzugehören.
Die „Dämmerung“ erscheint hier als Grenzbereich zwischen Wachbewusstsein und Traum; oft sind es die stummen Dinge selbst, die zum Handlungsträger werden („Ein Kinderwagen schreit“). Der promovierte Jurist Lichtenstein ging im Oktober 1913 als Freiwilliger zum bayerischen Infanterieregiment und schrieb von dem Zeitpunkt an Gedichte, in denen er den eigenen Tod antizipierte. Er starb am 25. September 1914 in Vermandevillers/Reims bei Kämpfen an der „Westfront“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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