Arno Holz’ Gedicht „An Neunundneunzig von Hundert“

ARNO HOLZ

An Neunundneunzig von Hundert

Ihr schwatzt befrackt hoch vom Katheder
Von alter und von neuer Kunst,
Von Fleischgenuss und Sinnenbrunst,
Und gerbt nur Leder, altes Leder!

Ihr lasst um jede Attitüde
Ein weissgewaschnes Hemdchen wehn,
Denn um Schönheit nackt zu sehn,
Sind eure Seelen viel zu prüde!

1886

 

Konnotation

Offenbar war es für selbsternannte „moderne Poeten“ seit jeher ein unersetzliches Vergnügen, dem literarischen Spießer kräftig die Leviten zu lesen. Mit ebenso schlichten wie plumpen Dichotomien hat der Aktivist des literarischen Naturalismus Arno Holz (1863–1929) den Kunstbanausen an deutschen Universitäten den Kampf ansagen wollen. Dabei waren seine eigenen „Lieder eines Modernen“, wie er sein 1886 publiziertes Buch der Zeit im Untertitel nannte, rhetorisch zwar immer aufgeregt, aber poetisch höchst konventionell.
Holz’ Rundumschlag gegen den ästhetischen Unverstand laboriert selbst an jener Prahlerei, die er den primitiven Bildungs-Darstellern auf dem Katheder unterstellt. Dass er der intellektuellen Rückständigkeit der Akademien ausgerechnet einen unklaren Begriff von „nackter Schönheit“ entgegenhält, zeugt nicht von Gedankenschärfe. Die lyrische Polemik versandet schnell als Gemeinplatz. Erst zehn Jahre nach seinem Buch der Zeit fand Holz seinen Weg als lyrischer „Revolutionär“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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