CHRISTA REINIG
Die Prüfung des Lächlers
als ihm die luft wegblieb, hat er gelächelt
da hat sein feind im kühlung zugefächelt
er lächelte, als er zu eis gefror
der feind rückt ihm die bank ans ofenrohr
er lächelte auch, als man ihn bespuckte
und als er brei aus kuhmist schluckte
er lächelte, als man ihn fester schnürte
und er am hals die klinge spürte
doch als man ihm nach einem wuchtigen tritt
die lippen rundum von den zähnen schnitt
sah man ihn an, erst ratlos, dann erstarrt
wie er im lächeln unentwegt verharrt
1950er Jahre
aus: Christa Reinig: Sämtliche Gedichte. Eremiten-Presse, Düsseldorf 1984
Das verstörende Gedicht Christa Reinigs (geb. 1926) vergegenwärtigt eine Szene des Schreckens. Ein Gefolterter – wobei offen bleibt, ob es sich um einen christlichen Märtyrer, einen politischen Gefangenen oder ein anonymes Verbrechensopfer handelt – setzt seinen Feinden ein Lächeln entgegen, selbst in der schlimmsten Tortur. Das in den 1950er Jahren entstandene Gedicht lässt bereits in seinem legendenhaften Titel ahnen, dass es um einen exemplarischen Opfergang geht.
Das Lächeln des Leidenden bleibt rätselhaft. Dass jemand mit einer solchen Unbeugsamkeit seinen Folterern trotzt, ist der Alltagsvernunft unbegreiflich. So lässt sich das poetische Bild dieser Beharrungskraft auch als politische Parabel lesen. Mit politischer und ästhetischer Unbeugsamkeit hat Christa Reinig nämlich Erfahrung. Ihre so lapidaren, trotzigen Verse konnten bis auf wenige Ausnahmen in der DDR nicht gedruckt werden. So ging sie 1964 in den Westen und setzte dort ihre bitteren anthropologischen Befunde fort.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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