Christian Fürchtegott Gellerts Gedicht „Der sterbende Vater“

CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT GELLERT

Der sterbende Vater

Ein Vater hinterließ zween Erben,
Christophen, der war klug, und Görgen, der war dumm.
Sein Ende kam, und kurz vor seinem Sterben
Sah er sich ganz betrübt nach seinem Christoph um.
,Sohn!‘ fing er an, ,mich quält ein trauriger Gedanke;
Du hast Verstand, wie wird dir’s künftig gehn?
Hör’ an, ich hab’ in meinem Schranke
Ein Kästchen mit Juwelen stehn,
Die sollen dein. Nimm sie, mein Sohn,
Und gib dem Bruder nichts davon.‘

Der Sohn erschrak und stutzte lange.
,Ach Vater!‘ hub er an, ,wenn ich so viel empfange,
Wie kömmt alsdann mein Bruder fort?‘
,Er?‘ fiel der Vater ihm ins Wort,
,Für Görgen ist mir gar nicht bange,
Der kömmt gewiß durch seine Dummheit fort.‘

1769

 

Konnotation

Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), der Abkömmling einer bitterarmen Pastoren-Familie aus dem Erzgebirge, exponierte sich ab 1740 als Moralphilosoph, Wegbereiter des Briefromans und als Propagandist der aufklärerischen Fabel. Im ersten Teil der „Fabeln und Erzählungen“ aus den Sämtlichen Schriften von 1769, findet man das kleine balladeske Poem über den rätselhaften Erbschafts-Beschluss eines Vaters.
Die ungleiche Verteilung der Wertbestände an die Nachkommen, die hier der sterbende Vater ankündigt, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein Akt der Gerechtigkeit. Hinter der sarkastischen Bemerkung, dass „Dummheit“ ein sicherer Motor gesellschaftlichen Erfolgs sein könnte, versteckt Gellert seine scharfe Zeitkritik. Denn ganz offenbar handelt es sich hier doch um eine Erfahrungstatsache aus der Lebenswelt des Dichters, die hier diagnostiziert wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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