Christian Morgensterns Gedicht „Der Lattenzaun“

CHRISTIAN MORGENSTERN

Der Lattenzaun

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm
mit Latten ohne was herum,

ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri – od – Ameriko.

1905

 

Konnotation

Einen Höhepunkt der grotesk-komischen Dichtkunst verdanken wir Christian Morgenstern (1871–1914), dem Meister der Skurrilität. Sein berühmtes, 1905 in den Galgenliedern veröffentlichtes Gedicht „Der Lattenzaun“ handelt ja weniger von den Eigenarten des Instruments zur Garten- oder Grundstückseingrenzung, als vielmehr vom Entzug des „Zwischenraums“.
Während seiner Arbeit an den Galgenliedern laborierte Morgenstern bereits an einer schweren Lungenkrankheit, der er seine unübertroffenen Scherz- und Nonsens-Gedichte abtrotzte. In seinem letzten Brief vor seinem Tod am 31. März 1914 schrieb er: „Gewiss, ich bin seit zwanzig Jahren leidend…, aber, so paradox es klingen mag, es sträubt sich alles in mir, von irgend jemandem als krank empfunden zu werden… Ich möchte den Satz aufstellen: Kein wahrhaft freier Mensch kann krank sein. Und was mich betrifft, so mögens meine Werke von der ersten bis zur letzten Zeile bezeugen.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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