Erich Frieds Gedicht „Erhaltung der Materie“

ERICH FRIED

Erhaltung der Materie

Jeden Morgen
werde ich einbalsamiert

Der Mund wird ausgespült
mit scharfen Essenzen

Die Träume werden vergessen
die Haare gekämmt

die Zähne geputzt
die Augen weiter geöffnet

Im Spiegel vor dem Rasieren
wird tief geatmet

Nach dem Rasieren
wird die Gesichtshaut verjüngt

mit Spiritus
und das Haar mit einem Zerstäuber

Mut wird gefaßt
etwas Warmes kommt in den Magen

Dann zerfalle ich weiter
dem nächsten Morgen entgegen

nach 1964

aus: Erich Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 1. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1993

 

Konnotation

Die frühmorgendliche Zurüstung eines Menschen für sein Alltagshandeln, seine verbissene Arbeit am eigenen „Outfit“ entziffert Erich Fried (1921–1988) hier aus kulturkritischer Perspektive als masochistischen Akt der Anpassung. Das physikalische Gesetz von der „Erhaltung der Materie“ überträgt er in dem nach 1964 entstandenen Text auf die Selbstinszenierungsrituale des Menschen. Hinter der Fassade des Schminkens und Stylens setzt sich aber eine Verfallsgeschichte fort.
Im Jahr nach seinem provokativen, dezidiert anti-militaristischen Gedichtband und vietnam und (1966) veröffentlichte Erich Fried den Band Anfechtungen, in dem die explizite politische Kritik an den Regierungen der USA und Israels durch eher parabelhafte Texte, Spruch- und Lehrgedichte ergänzt wird. Das Gedicht „Erhaltung der Materie“ gehört in diese Reihe dieser poetisch-politischen Lektionen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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