Florian Voß’ Gedicht „Egoiste“

FLORIAN VOSS

Egoiste

Ich war so müd als ich des Nachts im Fernsehn lag
im Werbeblock war eine grüne Wiese lang zu sehen
mit bösen Blumen die die schwarzen Fliegen fingen
(am Waldrand zappelte ein Power-Ranger)
Der Himmel war aus Eisenlack
Im anderen Channel lief ein alter Mann
durch eine Reklame von Chanel
In meinem Hirn war alles völlig farbig
Ich war so müd als ich des Nachts im Fernsehn lag
im Herzen war mein Panic-room
Laßt mich doch sein ein großer Werbespot
damit ich mich erkennen kann

2008

aus: Sinn und Form, Heft 3/2008

 

Konnotation

Ein Ich am Rand der Selbstauflösung: Das Fernsehen, der große Tranquilizer mit sedierender Wirkung, wird zum künstlichen Paradies für ein passives Subjekt, das immer mehr seine Konturen verliert. In diese prächtig bunten TV-Bilder kann das Ich selig eintauchen, ohne mit der Welt in Berührung zu geraten. Mit Blick auf die lyrische Evokation moderner Rauscherfahrungen durch den Jahrhundertdichter und Großstadtdandy Charles Baudelaire (1821–1867) verweist uns der Berliner Dichter Florian Voß (geb. 1970) auf das süßeste Gift der Gegenwart – den TV-Bildschirm.
Das müde Ich, dem die Zeit in isolierte Momente zerfällt – wie in Baudelaires Erfahrung des „Spleen“ – lässt sich von den Trivialmythen des Fernsehens überwältigen. Die stärksten affektiven Augenblicke liefern ein jugendlicher Kampfheld („Power-Ranger“) und ein Horror-Streifen („Panic room“). Das Gedicht entwirft ein sehr treffendes Bild des modernen „Egoisten“: überflutet von visuellen Reizen und Werbebotschaften, kann sich das Ich nur noch im Spiegel televisionärer Surrogate „erkennen“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00