Friederike Mayröckers Gedicht „MEINE MUTTER MIT DEN OFFENEN ARMEN…“

FRIEDERIKE MAYRÖCKER

MEINE MUTTER MIT DEN OFFENEN ARMEN
wenn sie mich grüszte wenn ich zu ihr kam

meine Mutter mit den zärtlichen Worten
wenn ich sie anrief dasz ich nicht kommen könne

meine Mutter mit dem abgewandten Gesicht
als sie noch sprechen wollte aber es nicht mehr konnte

meine Mutter mit den geschlossenen Augen
als ich zu spät kam sie ein letztes Mal zu umarmen

1995

aus: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. Hrsg. von Marcel Beyer. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 2004

 

Konnotation

In mindestens zwei Gedichtbänden – Das besessene Alter (1992) und Notizen auf dem Kamel (1996) hat die 1924 geborene Friederike Mayröcker das Altern und das Sterben ihrer Mutter zu einem lyrischen Leitmotiv erhoben. In dieser anrührenden Poesie des Abschieds spricht das lyrische Ich von einer Zerreißprobe der Gefühle. Denn das Gefühl der liebenden Zuwendung und Fürsorge wird immer wieder durchkreuzt und überlagert von einem alles dominierenden „Schreibfieber“.
In die Geste der nachgetragenen Liebe mischen sich Schuldgefühle: Das lyrische Alter Ego der Autorin bezichtigt sich nicht nur in diesem am 12.7.1995 entstandenen Gedicht des Versagens und Zu-Spät-Kommens. In diesem und in anderen späten Gedichten Mayröckers treten ganz deutlich Erfahrungen religiöser Inständigkeit und Demut in den Vordergrund.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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