Friedrich Rückerts Gedicht „Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen,…“

FRIEDRICH RÜCKERT

Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen,
Bald werden sie wieder nach Haus gelangen,
Der Tag ist schön, o sei nicht bang,
Sie machen nur einen weitern Gang.

Jawohl, sie sind nur ausgegangen,
Und werden jetzt nach Haus gelangen,
O sei nicht bang, der Tag ist schön,
Sie machen den Gang zu jenen Höhn.

Sie sind uns nur vorausgegangen,
Und werden nicht hier nach Haus verlangen,
Wir holen sie ein auf jenen Höhn
Im Sonnenschein, der Tag ist schön.

1834

 

Konnotation

Um die Jahreswende 1833/34 starben zwei Kinder des polyglotten Universalgelehrten, Dichters und Übersetzers Friedrich Rückert (1788–1866) an Scharlach. In einer besessenen lyrischen Trauerarbeit verfasste Rückert in den darauf folgenden Monaten etwa 500 Gedichte, um dieses Trauma zu verarbeiten. So entstanden die bewegenden „Kindertodtenlieder“, die diesem Sterben einen positiv-metaphysischen Sinn abgewinnen wollen.
Dieses Lied in der Art eines Rondos liest sich wie eine Heilsbeschwörung. Das Ich bietet alle Kunst der Autosuggestion auf, um seine Trauer umzulenken in Zuversicht. Die „Bangigkeit“ wird transformiert in die Phantasie einer nur kurzen, vorübergehenden Abwesenheit der Toten und ihrer Präsenz in einem idyllischen Bezirk. Das Jenseits erscheint als lichtdurchfluteter Ort, an dem die Schönheit ihren Sitz hat. Und als größter Trost wird die Vorstellung lanciert, dass es zu einer Wiederbegegnung mit den „Ausgegangenen“ kommen wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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