Gottfried Benns Gedicht „Lebe Wohl –“

GOTTFRIED BENN

Lebe Wohl –

Lebe wohl, du Flüchtige, Freie
die Flügel zu Fahrt und Flug –
geschlossen die Rune, die Reihe,
die deinen Namen trug.

Ich muß nun wieder
meine dunklen Gärten begehn,
ich höre schon Schwanenlieder
vom Schilf der nächtigen Seen.

Lebe wohl, du Tränenbereiter,
Eröffner von Qual und Gram,
verloren – weiter
die Tiefe, die gab und nahm.

1952

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Band I: Gedichte 1. In Verb. mit Ilse Benn hrsg. von G. Schuster. Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

Als ein Virtuose erotischer Libertinage kultivierte Gottfried Benn (1886–1956) immer wieder sexuelle Dreiecksbeziehungen, die er nach einer verlässlichen Lebensregel organisierte: „Gute Regie ist besser als Treue.“ Selbst im fortgeschrittenen Alter versuchte er beharrlich (freilich mit wechselndem Erfolg), neue Leibgefährtinnen für sich zu rekrutieren – die junge Germanistin Astrid Claes (geb. 1928) und die Schriftstellerin Ursula Ziebarth (geb. 1921). Einer Geliebten, die er verloren hatte, widmete er ein pathetisches Abschiedslied.
Das 1952 erstmals veröffentlichte Gedicht versteht Benn selbst als Requiem auf „eine der seltsamsten und gefährlichsten Affären meines Lebens“. Der von feierlichen Jamben getragene Text stilisiert die Geliebte zum freien, geflügelten Wesen, das den Liebenden in seinen schwermütigen Dunkelheiten zurücklässt. Das lyrische Subjekt Benns erscheint einmal mehr als Visionär der „Tiefe“ und als schicksalbeschwertes Orakel, das in „Qual und Gram“ von Ahnungen dunkler Zukünfte kündet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00