Günter Kunerts Gedicht „In Ketten“

GÜNTER KUNERT

In Ketten

Die Daseinsfrage stellt ja keiner mehr.
Das große „Es“, das läuft so vor sich hin.
Nur ganz Naive suchen noch den Sinn
in allem Treiben, aber der
steckt nirgendwo in jenem drin.
Der Zauberkasten Welt ist lange leer
und spendet keinerlei Gewinn
für das Gemüt. Hilft kein Begehr
dir aus der Haft von Dingen.
Du bleibst gefangen unter ihrem Bann:
Wie herrlich die Sirenen singen!
Odysseus sein – wer das schon kann.

1990er Jahre

aus: Günter Kunert: Nachtvorstellung. Carl Hanser Verlag, München 1999

 

Konnotation

In Homers Erzählung überlistet Odysseus die Sirenen durch eine freiwillige Selbstfesselung: Er vermag ihren unwiderstehlichen Gesang zu hören, ohne das Opfer ihrer tödlichen Verführung zu werden. Günter Kunert (geb. 1929), der lyrische Diagnostiker unserer zivilisatorischen Verfallsgeschichte, zitiert die Odysseus-Figur in einem überraschenden Zusammenhang. Denn wo die Frage nach dem Daseins-Sinn gesellschaftlich suspendiert ist, da haben auch die alten Verführungs-Mittel eigentlich keine Wirkung mehr.
„Der Zauberkasten Welt ist lange leer“: Für Kuriert ist die Entzauberung der Welt schon lange abgeschlossen; das Weltgetriebe funktioniert blind, ohne dass eine mythische Sinnstiftung noch erfolgen könnte. Der Mensch bleibt in „der Haft von Dingen“. Doch wenn die Welt entleert ist von magischen Qualitäten, kann auch die materialistische Fesselung an die Dinge keine Sirenen-Macht mehr entfalten. So gerät das in den 1990er Jahren entstandene Gedicht in einen inneren Widerspruch.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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