Helga M. Novaks Gedicht „Tanzlied“

HELGA M. NOVAK

Tanzlied

mein Vater hat seine Liebe erschlagen
aaaich gerate ihm nach
aaaich gerate ihm nach
er hing in der Luft eines Wintertages
aaaich gerate ihm nach
aaaich gerate ihm nach
bei Nacht hab ich ein Auge zuviel
aaawie Daniel
aaawie Daniel
das dritte senkrecht auf der Stirn
aaawie Daniel
aaawie Daniel
schwarzes Gras wuchs unterm Galgen
aaaich bin es nicht
aaaich bin es nicht

1950er Jahre

aus: Helga M. Novak: solange noch Liebesbriefe eintreffen. Gesammelte Gedichte. Hrsg. v. Rita Jorek. Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt a.M. 1999, 2008

 

Konnotation

Wer als Dichter imaginativ in die eigene Frühgeschichte zurückkehrt, findet dort nicht immer jene „Heimat“, die nach einem Wort Ernst Blochs „allen in die Kindheit scheint“. Die Dichterin Helga Novak (geb. 1935) findet dort vor allem Traumata: die Erfahrung von Liebesentzug, Verstoßung und dem Elend eines beschädigten Lebens. Ihre erste Verstoßung in die Fremde erlitt Novak bereits drei Tage nach ihrer Geburt in einem Kinderheim in Berlin-Köpenick, als ihre Mutter das Neugeborene zur Adoption freigab. Die Gestalt des Vaters ist noch finsterer umwölkt von Phantasmagorien der Gewalt.
Das in den 1950er Jahren entstandene „Tanzlied“ verheißt nicht, wie es den Traditionen des Genres gemäß wäre, Empfindungen von Grazie und Leichtigkeit, sondern führt mitten in Urszenen des Schreckens. Der Vater erscheint als Mörder und als Gehenkter. Die von ihm verübte Gewalt liegt wie ein Fluch auf dem lyrischen Ich. Diese alptraumartige Phantasie wird mit einer Vision des biblischen Propheten Daniel verbunden, der von der Begegnung mit einem Ziegenbock berichtete, auf dessen Stirn ein markantes Horn (das „dritte Auge“) erschien.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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