Hellmuth Opitz’ Gedicht „Gott hatte eine gute Rückhand…“

HELLMUTH OPITZ

Gott hatte eine gute Rückhand
in jenem Sommer neunundachtzig.
Knapp strichen die Getäuschten über
die Netzkante, die Gehetzten und
Geheuchelten, über die Netzkante
aus Eisen strichen sie, zückten ihre
passwords belogen und betrogen
und wir, naturtrüb im Schädel und
Hardware im Herzen, wir hieltens für
Fernweh, als die Botschaften platzten
und aus allen Umlaufbahnen Trabanten
zu uns hereinschwebten. Wir machten
einen Riesenriß und merktens nicht
an unseren palmenverseuchten Stränden,
geschwenkt von einem Abendlicht aus
mildem Bourbon. In jenem Sommer:
Da fing es an. Da hat man Deutschland.
Verdammt und zugenäht.

nach 2000

aus: Hellmuth Opitz: Die Sekunden vor Augenaufschlag. Pendragon Verlag, Bielefeld 2006

 

Konnotation

Auch zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution in Leipzig, Dresden und Berlin, die in die Selbstauflösung der DDR mündete, kann der westdeutsche Beobachter ins Staunen geraten. Der Dichter Hellmuth Opitz (geb. 1959), ein kluger Vertreter des poetischen Realismus, illustriert hier die Taubheit der westlichen Öffentlichkeit („wir hieltens für / Fernweh“) für die elementaren vor-revolutionären Ereignisse des Sommers 1989. Der Westen, der in touristischer Entrücktheit vor sich hin dämmert, registriert kaum, was sich an unsichtbaren geologischen Verschiebungen innerhalb des DDR-Systems vollzieht.
Die Schlusszeilen lassen offen, ob der sich im Sommer 1989 ankündigende Umsturz bejaht oder skeptisch in Frage gestellt wird. Ein einiges Deutschland, das – im Anklang an einen kräftigen Fluch – „verdammt und zugenäht“ wird, ist eigentlich kein bewundertes politisches Subjekt. Nicht nur diese Stelle zeigt, dass Opitz nicht einfach jener Heros einer neuen „Verständlichkeit“ ist, als der er mancherorts bejubelt wird, sondern ein kunstvoll die scheinbare Leichtigkeit und Direktheit seiner Gedichte austarierender Autor.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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