Helmut Kraussers Gedicht „wir mieteten ein zimmer,…“

HELMUT KRAUSSER

wir mieteten ein zimmer,
verschanzten uns für immer,
teilten koks und klopapier.
du hättest es ganz gut bei mir.

ich würde ausgesprochen
sanft sein und gut kochen
würde dich nicht nur verehren,
auch auf höchstniveau ernähren,

würde mit obszönen
versen dich verwöhnen
würde laute dir entlecken

die die halbe stadt aufwecken.
gottverfluchte konjunktive.
wie gern ich mit dir schliefe.

nach 2003

aus: Helmut Krausser: Plasma. Gedichte 2003–2007. DuMont Verlag, Köln 2007

 

Konnotation

Liebeserklärungen laborieren mitunter an einer existenziellen Crux. Ihre Verfasser können sie lebensweltlich nicht umsetzen, die formulierten Wunschbilder bleiben unerfüllbar, der Text verharrt im Modus des Konjunktivs. Und die Liebe schlägt um in Liebesschmerz. Helmut Krausser (geb. 1964) dagegen, der nie um eine vitale Kraftgebärde verlegene Erzähler und Gelegenheitslyriker, erzählt die Ballade seiner Liebeswünsche ganz ohne Melancholie – er bevorzugt den derben Charme des Hedonisten, der selbst bei erzwungenem Verzicht auf die Liebe noch genussfähig bleibt.
Mit diesem rundum sinnlich aufgeladenen Liebesgedicht, das mit schönen Direktheiten nicht geizt, setzt Krausser die Tradition Bertolt Brechts (1898–1956) fort, dem es dereinst merklich Vergnügen bereitete, erotische Aktivität in elegante Verse zu transformieren. Was an Kraussers Versen berührt, ist die hinter Lässigkeit versteckte Tragik des gescheiterten Liebhabers, der seine Wünsche an den Irrealis delegieren muss.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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