Ingeborg Bachmanns Gedicht „Wahrlich“

INGEBORG BACHMANN

Wahrlich

Wem es ein Wort nie verschlagen hat,
und ich sage es euch,
wer bloß sich zu helfen weiß
und mit den Worten –

dem ist nicht zu helfen.
Über den kurzen Weg nicht
und nicht über den langen.

Einen einzigen Satz haltbar zu machen,
auszuhalten in dem Bimbam von Worten.

Es schreibt diesen Satz keiner,
der nicht unterschreibt.

1964

aus: Ingeborg Bachmann: Werke Bd. 1: Gedichte. Piper Verlag, München 1978

 

Konnotation

Bei einem Italien-Besuch im Sommer 1964 hatte Ingeborg Bachmann (1926–1973) die russische Dichterin Anna Achmatowa (1889–1966) kennengelernt, die in der Stalin-Ära massiven Repressionen ausgesetzt war und erst 1958 wieder in den russischen Schriftstellerverband aufgenommen wurde. Das Gedicht ist vermutlich anlässlich einer Preisverleihung an Achmatowa im Dezember 1964 entstanden.
Die Begegnung mit Achmatowa führte schließlich zum Bruch Bachmanns mit dem Piper Verlag. Bei Piper erschien nämlich 1967 eine Übersetzung von Achmatowas Requiem aus der Feder eines früheren NS-Dichters, ein Vorgang, der für Bachmann inakzeptabel war. Das Gedicht selbst bezeichnet die Schwierigkeit des „wahren“, authentischen Sprechen in einem Umfeld formelhaft erstarrter Rede und der manipulativen Sprache der Macht. Die Verzweiflung über die schiere Unmöglichkeit, „einen einzigen Satz haltbar zu machen“, ist ein Zentralmotiv in Bachmanns späten Gedichten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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