Jakob Michael Reinhold Lenz’ Gedicht „Wo bist du itzt“

JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ

Wo bist du itzt

Wo bist du itzt, mein unvergeßlich Mädchen,
Wo singst du itzt?
Wo lacht die Flur, wo triumphiert das Städtchen,
Das dich besitzt?

Seit du entfernt, will keine Sonne scheinen,
Und es vereint
Der Himmel sich, dir zärtlich nachzuweinen,
Mit deinem Freund.

All unsre Lust ist fort mit dir gezogen,
Still überall
Ist Stadt und Feld – dir nach ist sie geflogen,
Die Nachtigall.

O komm zurück! Schon rufen Hirt und Herden
Dich bang herbei!
Komm bald zurück!

1772/73

 

Konnotation

Es ist mir, also ob ich auf einer verzauberten Insel gewesen wäre.“ So beschreibt der unglückliche Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) eine Schlüsselszene seines Lebens, die Begegnung mit der Pastorentochter Friederike Brion im elsässischen Sesenheim Ende Mai 1772. Die von ihm innig Angebetete war gerade von Goethe, dem Freund und Rivalen von Lenz, verlassen worden.
Etwa ein Jahr nach der ersten Begegnung mit Friederike Brion entstand das herzzerreißende Liebesgedicht von Lenz, das jenes Motiv der Abwesenheit und des Verlustes thematisiert, das bestimmend wurde im Leben des Dichters. Ein Lenz-Biograph verweist auf Friederike als „dauerhafteste Neigung“ in Lenz’ Lebensweg: „Ihretwegen versuchte er Selbstmord, ihren Namen wiederholte er in den Wahnsinnsphantasien…“ Die Freundschaft zwischen Goethe und Lenz zerbrach im Sommer 1776, als Goethe aufgrund eines bis heute nicht geklärten Vorfalls („Lenz Eseley“) die Ausweisung des Freundes aus Weimar verfügte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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