Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Ich habe dich so lieb“

JOACHIM RINGELNATZ

Ich habe dich so lieb

Ich habe dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
Eine Kachel aus meinem Ofen
Schenken.

Ich habe dir nichts getan.
Nun ist mir traurig zumut.
An den Hängen der Eisenbahn
Leuchtet der Ginster so gut.

Vorbei – verjährt –
Doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
Ist leise.

Die Zeit entstellt
Alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.

Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache
an einem Sieb

Ich habe dich so lieb.

1928

 

Konnotation

Es ist eins der schönsten, weil komischsten Exemplare aus dem Genre „Liebeslyrik“. Um die Trauer über das Ende einer Liebe nicht übermächtig werden zu lassen, schleust der schnoddrige Kabarettist und Reimkünstler Joachim Ringelnatz (1883–1934) einige skurrile Banalitäten in seine Verse ein. Als unwiderlegliches Zeugnis der Liebe eine Kachel aus einem Ofen zum Präsent machen – das konnte nur einem Ringelnatz alias „Kuddel Daddeldu“ (sein Kosename nach einer seiner Seemanns-Figuren) einfallen.
Die Melancholie lässt sich in diesem 1928 erstmals in der Sammlung Allerdings gedruckten Gedicht auf Dauer nicht abwehren, auch nicht durch das selbst verordnete „Lachen“. Auch nicht durch einen analphabetischen Hund. Vielleicht handelt es sich bei diesem Tier um „Frau Lehmann“, die Dackeldame, die Ringelnatz in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr von der Seite wich. Am Ende folgt dann eine Spruchweisheit resignierender Liebe: „lieb“ reimt sich – kurios und herzzerreißend zugleich – auf „Sieb“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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