Joseph von Eichendorffs Gedicht „In der Fremde“

JOSEPH VON EICHENDORFF

In der Fremde

Ich hör die Bächlein rauschen
Im Walde her und hin,
Im Walde in dem Rauschen
Ich weiß nicht, wo ich bin.

Die Nachtigallen schlagen
Hier in der Einsamkeit,
Als wollten sie was sagen
Von der alten, schönen Zeit.

Die Mondesschimmer fliegen,
Als säh ich unter mir
Das Schloß im Tale liegen,
Und ist doch so weit von hier!

Als müsste in dem Garten
Voll Rosen weiß und rot,
Meine Liebste auf mich warten,
Und ist doch lange tot.

vor 1837

 

Konnotation

Kein Dichter der klassischen und romantischen Literaturperiode hat die seelischen Gezeiten des Ich in so wehmütigen und ergreifenden Versen beschrieben wie Joseph von Eichendorff (1788–1857), der „Dichter des Heimwehs“ (T.W. Adorno). In seinem vor 1837 entstandenen Gedicht spricht die Natur in ihrem schwer entzifferbaren „Rauschen“ und anderen Tönen zu einem empfindsamen Ich, das sich die Botschaft in eine eigene Sprache übersetzen muss. Es geht um die Beschwörung von Verlust, Einsamkeit, Entfremdung und Tod.
Man ist versucht, die Verlusterfahrung auf dem Hintergrund biografischer Informationen zu deuten. Eichendorffs Vater, ein schlesischer Landadliger, hatte sich verspekuliert, und die familiären Besitzungen, in deren nach jahrelanger finanzieller Not zwangsversteigert. Das Kindheitsparadies und mit ihm die „alte schöne Zeit“ waren nach 1823 unwiederbringlich dahin. Der Tod der Geliebten ist hier kein biografisch beglaubigter, sondern erscheint als Zeichen der Endgültigkeit und Unwiederbringlichkeit des Verlusts.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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