Joseph von Eichendorffs Gedicht „Lied“

JOSEPH VON EICHENDORFF

Lied

In einem kühlen Grunde,
Da geht ein Mühlenrad,
Mein’ Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.

Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei,
Sie hat die Treu gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.

Ich möcht’ als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen
Und gehn von Haus zu Haus.

Ich möcht’ als Reiter fliegen
Wohl in die blut’ge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.

Hör ich das Mühlrad gehen,
Ich weiß nicht, was ich will,
Ich möcht am liebsten sterben,
Da wär’s auf einmal still.

1810

 

Konnotation

Als Student in Heidelberg geriet Joseph von Eichendorff (1788–1857) schnell in den Bann der romantischen „Kampfgenossen“ Clemens Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831), deren Volkslieder-Sammlung Des Knaben Wunderhorn er als stilistisches Modell für seine eigenen Gedichte adoptierte. Aus der Verknüpfung alter Volksliedweisen mit emblemartigen Naturbildern, die mit modernen, ambivalenten Emotionen aufgeladen werden, gewinnt Eichendorff den für seinen Gedichte charakteristischen wehmütigen Ton.
In spekulativem Übereifer hat die Eichendorff-Forschung das 1810 entstandene „Lied“, das später unter dem Titel „Das zerbrochene Ringlein“ bekannt geworden ist, biografistisch ausgedeutet und als Resultat eines frustrierenden Liebesabenteuers mit der Bürgerstochter Katharina Förster aus Heidelberg-Rohrbach entziffert. Jüngere Exegesen zweifeln an dieser Version und verweisen darauf, dass Eichendorff die Verbindung des Mühlen-Motivs mit der Erfahrung der enttäuschten Liebe einem Mühlenlied aus Des Knaben Wunderhorn entnommen haben könnte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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