Jürgen Beckers Gedicht „Renaissance“

JÜRGEN BECKER

Renaissance

Nun betrachte die Wiese, nicht
das Photo, die Wiese.

Die Katze, keine Bewegung,
und keine Bewegung, die Amsel.

Rostblätter unter dem Zaun.
Rostblätter unter dem Zaun.

Und Dämmerung, und wilder Schnee.

Der stille Schnee. In der Dämmerung
geht der Schnee.

ca. 1981/82

aus: Jürgen Becker: Odenthals Küste, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1986

 

Konnotation

Wenn ich eine Landschaft sehe“, hat Jürgen Becker einmal gesagt, „sehe ich sie mit den Augen eines Malers. Ich versuche zwar nicht, wie ein Maler ein sprachliches Bild zu schaffen, aber der optische Impuls, der von einer Straße, einer Wiese, einem Wald ausgeht, bringt Sprache, Sätze hervor.“ Viele Gedichte des 1932 in Köln geborenen Becker reflektieren auch das technische Medium, das diese visuellen Impulse auffängt: Es ist eine Poesie an der Grenzlinie von Literatur und Fotografie.
Ein kleiner Erlebnisaugenblick, ein Moment der Wahrnehmung wird in „Renaissance“ eingefroren – im fotografischen Schnappschuss. So kommt es zu einer lyrischen Doppelbelichtung und Intensivierung: die sinnliche Wahrnehmung einer Natur-Szene erfährt eine „Renaissance“ im fotografischen Abbild. Das Gedicht ist Anfang der 1980er Jahre entstanden, zehn Jahre nachdem Becker die Poesie im Foto-Band Eine Zeit ohne Wörter ganz ins Visuelle zurückgenommen hatte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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