Jürgen Beckers Gedicht „Who is who“

JÜRGEN BECKER

Who is who

Diesen Mann in Ruhe lassen. Am Fenster
nachts in der Küche, sitzt er
auf der Eckbank und tut nichts.
Vor dem Fenster, im Westwind, bewegt
sich der Birnbaum. Nebenan in der Stube
tickt die Wanduhr. Er steht auf,
wenn leer ist das Glas und Zeit ist
für den Blick in den Ofen.
Die Katze im Korb hebt den Kopf,
wenn er vorbeigeht, wieder sich hinsetzt
und atmet. Draußen die Leute fragen,
wie lange und kannst du
in Ruhe leben mit diesem Mann.

1977/78

aus: Jürgen Becker: Dorfrand mit Tankstelle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007

 

Konnotation

Ein Gedicht umkreist nicht nur mystische, sensationelle oder exorbitante Lebensaugenblicke, sondern kann auch demonstrativ das vollkommen Unspektakuläre, Unauffällige in den Blick nehmen – und es dadurch in ein neues Licht rücken. Jürgen Becker (geb. 1932), dessen Dichtkunst oft in protokollarischer Genauigkeit kleine Genreszenen des Alltags erfasst, hat hier einen Helden der Unscheinbarkeit beobachtet.
Alles scheint in dieser Szene eingefroren zu sein in einer leeren Zeit. Da ist die völlige Passivität und scheinbare Gleichgültigkeit des porträtierten Mannes, die Wiederkehr der immergleichen Bewegungsabläufe. Gerade dieses stille Zeitvergehen und der so unfassbare Gleichmut des rätselhaften Mannes sorgen in diesem Gedicht für Verstörung. Ein Blick in unsere alltägliche Erfahrungswelt kann genügen, um unsere mühsam erworbene Lebensbalance ins Wanken zu bringen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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