Martin Opitz’ Gedicht „Ach Liebste, laß uns eilen“

MARTIN OPITZ

Ach Liebste, laß uns eilen

Ach Liebste, laß uns eilen,     Wir haben Zeit;
Es schadet das Verweilen     Uns beiderseit.
Der schönen Schönheit Gaben     Fliehn Fuß für Fuß,
Daß alles, was wir haben,     Verschwinden muß.
Der Wangen Zier verbleichet,     Das Haar wird greis,
Der Äuglein Feuer weichet,     Die Flamm wird Eis.
Das Mündlein von Korallen     Wird ungestalt.
Die Händ als Schnee verfallen,     Und du wirst alt.
Drumb laß uns jetzt genießen     Der Jugend Frucht,
Eh dann wir folgen müssen     Der Jahre Flucht.
Wo du dich selber liebest,     So liebe mich,
Gib mir, daß, wann du gibest,     Verlier auch ich.

1624

 

Konnotation

In seinem epochalen Buch von der deutschen Poeterey (1624), das von den nachfolgenden Dichtergenerationen als mustergültige Poetik verehrt wurde, erhebt der Barockdichter Martin Opitz (1597–1639) die Liebe zum „wetzstein… an dem die Dichter ihren subtilen Verstand scherffen“ können. Das barocke Liebes-Poem wird zum Lebensprogramm – die Aufforderung zum hedonistischen Lebensgenuss in der Gegenwart steht dabei dem Vergänglichkeits-Motiv gegenüber.
Die paradox anmutenden Eingangsverse in diesem 1624 entstandenen Poem verweisen auf einen besonderen Zeitbegriff: Die Aufforderung zum eiligen Lebensgenuss scheinen nicht recht zusammenzupassen mit dem Befund: „Wir haben Zeit.“ Es geht indes um Zeitlichkeit im Sinne der Endlichkeit diesseitiger Existenz. Der Dreißigjährige Krieg hatte schon einige Jahre auf grausame Weise die Begrenztheit eines Menschenlebens vor Augen geführt, als Opitz sein Lob der barocken Sinnenfreude schrieb.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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