Nicolas Borns Gedicht „Miniatur“

NICOLAS BORN

Miniatur

Käfersammlung, begrenzte Farben, blaue Kohle

Meine Taschenuhr hab ich zum Reinigen gebracht
nun ist der Uhrmacher gestorben
Fahrräder surren an seinem Laden vorbei

Meine Handschrift, liebesunfähig
unter dem Aschenbecher mit Kippen, Kronkorken

Kugelschreiber schwarz, Not am Mann
Kontoauszug als Lesezeichen im Nabokov (Ada)

Das Gesicht unserer Erde: eine Riesenlibelle
vor dick aufgetragenem Abendrot

Großer Teddybär auf dem Fenstersims im Hof.

nach 1972

aus: Nicolas Born: Gedichte. Hrsg. v. Katharina Born. Wallstein Verlag, Göttingen 2004

 

Konnotation

Hier wird zunächst etwas Unsensationelles angekündigt. Die „Miniatur“ gibt vor, in genauer Beobachtung einen Ausschnitt unserer alltäglichen Erfahrungswirklichkeit festzuhalten. Aber ein friedfertiges Stilleben wird verweigert. Nicolas Born (1937–1979), der differenzierteste Dichter aus der Epoche der „Neuen Subjektivität“, ist nicht am Rückzug in einen befriedeten Weltwinkel interessiert, sondern an einer beunruhigenden Daseins-Inventur.
Borns Dichterfreund Jürgen Theobaldy (geb. 1944) zeigte sich angesichts der „Miniatur“ irritiert. Das um 1975/76 entstandene Gedicht, so schrieb Theobaldy (geb. 1944) an Born, drohe „auseinanderzufallen in einzelne Bilder“. In diese Bestandsaufnahme von Alltags-Realien sind indes deutliche Endzeit-Signale eingezeichnet: das Motiv der Taschen-Uhr und des gestorbenen Uhrmachers signalisiert Vergänglichkeit. Das Ich attestiert sich Liebesunfähigkeit. Und zuletzt ist es das bedrohliche Bild der „Riesenlibelle“, das der „Miniatur“ eine apokalyptische Beleuchtung gibt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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