Reiner Kunzes Gedicht „die mauer (zum 3. oktober 1990)“

REINER KUNZE

die mauer (zum 3. oktober 1990)

Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht,
wie hoch sie ist
in uns

Wir hatten uns gewöhnt
an ihren horizont

Und an die windstille

In ihrem schatten warfen
alle keinen schatten

Nun stehen wir entblößt
jeder entschuldigung

1990

aus: Reiner Kunze: ein tag auf dieser erde, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1993

 

Konnotation

Mit seiner stillen, lakonischen Poesie des Einspruchs gegen die herrschenden Sprachregelungen hatte der 1933 in Oelsnitz/Erzgebirge geborene Dichter Reiner Kunze in der DDR schon früh Anstoß erregt. Seine Gedichtbände, die mit subtilen Titeln wie zimmerlautstärke (1972) auf die Unfreiheit des Sprechens und die autoritär gelenkte Gesellschaft in der DDR verwiesen, konnten nur im Westen erscheinen. Kunze orientiert sich an der meditativen Poesie des tschechischen Dichters Jan Skácel, einer „Poesie mit großen Kinderaugen“, die „nahe zu den Dingen“ und „fern den Begriffen“ steht.
Den Schikanen im Osten folgten nach Kunzes Ausreise in die Bundesrepublik im April 1977 die politischen Erregungen um den angeblichen „Reaktionär“, da der Autor empfindlich blieb gegenüber linken Illusionen. Sein 1990 entstandenes Gedicht über den Mauerfall, über die Fortdauer der Trennlinien zwischen Ost und West und das Weiterleben politischer Bewusstseinsspaltungen zeugt von großer Bitterkeit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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