Rolf Lapperts Gedicht „Einfache Frage“

ROLF LAPPERT

Einfache Frage

Wohin leben Sie, was läßt Sie gehn?
Treibt es Sie in Ozeane, wo die Horizonte kippen,
und Fische ziehen ohne einen Funken Licht im Leib?
Dann ab dafür, die Lungen voller Blei,
ertrinken ist ein Segen, Glück,
denn der Rest der Menschheit rudert, irr
auf Ästen, eine Säge in der Hand.

Wohin leben Sie, was hält Sie hier und dort,
was läßt Sie bleiben, wo Sie sind?

um 1990

aus: Jahrbuch der Lyrik 9. Hrsg. v. Christoph Buchwald und Robert Gernhardt. Luchterhand Literaturverlag, Hamburg-Zürich 1993

 

Konnotation

Es ist mitnichten eine „einfache Frage“, die der als Romanautor bekannt gewordene Schweizer Rolf Lappert (geb. 1958) seinem lyrischen Protagonisten und auch dem Leser stellt. Diese Frage zielt auf die Lebensgrundlagen der menschlichen Spezies und auf die Bereitschaft des Subjekts, sein Dasein zu ändern und den drohenden planetarischen Untergang abzuwenden.
Wir haben es mit der radikalen Selbstbefragung eines Zeitgenossen zu tun, die von einer apokalyptischen Phantasie ausgeht und die Möglichkeit erkundet, der Existenz eine neue Richtung zu geben. In diese Situation der Entscheidung drängt sich in einem Vers auch eine geheime Sehnsucht nach dem Untergang, wenn das „Ertrinken“ als „Segen“ qualifiziert wird. Die Irritation, die von diesem um 1990 entstandenen Gedicht ausgeht, rührt von der Dringlichkeit der fundamentalen Fragen her – die auf jedes belehrende Pathos verzichten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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