Rudolf Alexander Schröders Gedicht „Schatten“

RUDOLF ALEXANDER SCHRÖDER

Schatten

Baum, Wolke, Wasser und Schatten
aaIm Wind, der sie floh und fing,
Reden vom Glück, das wir hatten,
aaRaunen vom Leid, das verging.

Leid, Wind und Wasser; und ging es?
aaUnd kam es? Und wann? Und wie?
Und wär’s auch nur um Geringes:
aaDie Rechnung rundet sich nie.

um 1930

aus: Rudolf Alexander Schröder: 100 Ausgewählte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1951

 

Konnotation

Da ist zunächst eine verführerische Melodie von den Elementen des Lebens, in eine schöne Schwebe gebracht. Es gibt Beständigkeiten („Baum“) und die Flüchtigkeiten der Wolkenbildung, die Schatten von verlorenen Gestalten. Kaum aufgerufen, münden diese schwebenden Elemente in einen melancholischen Blick auf das Verlorene: Nicht nur das Glück, auch das Leid ist vergangen. Im zweiten Teil hat sich das Leid unter die Elemente gemischt.
Rudolf Alexander Schröder (1878–1962), der Mitbegründer des Insel Verlags, Architekt, Innendekorateur und spätere Prediger der Bekenntnis-Kirche, liebte die elegischen und weihevollen Töne, das Kultivieren einer romantisierenden Wehmuts-Geste. In diesem frühen Gedicht besingt er das stoische Hinnehmen der Erfahrung von Leid. Die im Text selbst aufgeworfenen Fragen nach den metaphysischen Ursachen und Gründen für die unvorhersehbar verlaufenden Lebenslinien bleiben unbeantwortet. Am Ende steht ein orakelnder Spruch, der ein befriedigendes Daseinsgesetz ausschließt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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