Selma Meerbaum-Eisingers Gedicht „Sonett“

SELMA MEERBAUM-EISINGER

Sonett

Schau, dort kommen Melodien
durch den Tag gezogen.
Wie den lang gespannten Bogen
höre ich ihr Tönen ziehn.

Warum geben sie sich hin
allen, die da stehn?
Könnten sie nicht einzig blühn
nur für die, die sehn?

Und so sprechen sie mich an,
mich, die sie nicht tragen kann,
denn ich bin so müd.

Und so steh’ und klinge ich
voll von Sehnsucht, die verblich
und die weinend schied.

1941

aus: Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 1980

 

Konnotation

Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942), die Tochter eines jüdischen Ladenbesitzers aus Czernowitz, kam wie der ungleich berühmtere Paul Celan (1920–1970) aus dem Vielvölkerland Bukowina, einer „Gegend, wo Menschen und Bücher lebten“ (Celan). Der Einmarsch der deutschen Truppen nach Czernowitz im Juli 1941 bedeutete das Todesurteil für diese Koexistenz der Völker und für die Familie Meerbaum. Selma wurde mit ihrer Familie in ein Arbeitslager verschleppt und starb dort im Dezember 1942. Auf abenteuerliche Weise wurde ihr Nachlass gerettet – ein Album mit 57 Gedichten.
Die leis-melodischen Gedichte der 17jährigen Dichterin zeugen von einer erstaunlichen Formsicherheit. Hilde Domin (1907–2006) verlieh die Begabung der Selma Meerbaum mit dem genialischen jungen Hugo von Hofmannsthal. Die 57 Gedichte der so früh Verstorbenen gehörten in den Kanon der deutschen Poesie, nicht der spezifisch jüdischen: „Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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