Thomas Braschs Gedicht „Lied“

THOMAS BRASCH

Lied

Wolken gestern und Regen
Jetzt ist keiner mehr hier
Ich bin nicht dagegen
Singe und trinke mein Bier

Tränen heute und Lieder
Bäume verdunkeln den Mond
Ich komme immer wieder
Dorthin wo keiner mehr wohnt

Blätter morgen und Winde
Bist du immer noch hier
Ich besinge die Rinde
Der Bäume und warte bei dir

1980

aus: Thomas Brasch: Der schöne 27. September. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1980

 

Konnotation

Den Dichter Thomas Brasch (1945–2001) hat man einst als „Ulysses aus Charlottenburg“ gefeiert. Nach seinem Erfolgsbuch Der schöne 27. September (1980) sprachen seine Gedichte nur noch von den Suchbewegungen eines Einsamen, der gebannt scheint in ein ewig währendes Unglück. Zu zentralen Vorbildfiguren seines Schreibens erhob Brasch zwei Meister der populären Formen: Zum einen den jungen Brecht, den wilden Vaganten und Liebes-Berserker. Zum andern Heinrich Heine, dessen Volksliedstrophen und politische Balladen der poetische Nachgeborene konsequent ins Düstere wendet.
Der Protagonist dieser Gedichte ist meist ein Verlassener, der allein mit seinen Liedern in einer existenziellen Dunkelheit sein Beharrungsvermögen demonstriert. Als Gegenüber des lyrischen Subjekts ist zunächst nur die Natur da, mit der ein direkter Austausch gesucht wird („Ich besinge die Rinde / der Bäume “). Aber dann taucht – wie in Heines Buch der Lieder – noch ein „Du“ auf, auf das sich die Erwartungen des Ich richten. Dem einsamen Ich bleibt die Positionierung in einer Wartezeit, von der ungewiss ist, ob sie zu je zu Ende geht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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