Uljana Wolfs Gedicht „kinderlied“

ULJANA WOLF

kinderlied

mein vater
der kleine trompeter
gab sein blut
für unsre kehlen

singend führn wir
ihn im schilde
spielend schaufeln
wir sein grab

mein wächter
der kleine trompeter
mit dem blech
an seinen lippen

bläst uns
wenn die herzen
aus der deckung treten
seinen marsch

2004/05

aus: Uljana Wolf: kochanie ich habe brot gekauft. Gedichte. Kookbooks, Berlin 2005

 

Konnotation

Dieses verstörende „kinderlied“ führt zurück zu den Urszenen deutscher Geschichte. Im März 1925 wurde bei einer Wahlveranstaltung der Kommunistischen Partei Deutschlands ein Hornist des Roten Frontkämpferbundes von der Polizei erschossen. Dieses Ereignis bildete das mythische Ingrediens der antifaschistischen Heldenlegende vom „kleinen Trompeter“. Es entstanden Lieder und Filme vom „kleinen Trompeter“; nach Gründung der DDR gehörten „die kleinen Trompeterbücher“ zum Standardinventar des sozialistischen Kinderzimmers. In ihren lyrischen Suchbewegungen nach den Brennpunkten deutscher und polnischer Geschichte greift die 1979 geborene Uljana Wolf dieses Motiv wieder auf.
In ihrem preisgekrönten Gedichtbuch kochanie ich habe brot gekauft steht das „kinderlied“ in einem weit gespannten Motivkreis von Vater-Tochter-Geschichten. Zunächst fragt das Ich der Gedichte nach den lebensgeschichtlichen Prägungen durch „die Väter“, und anschließend nach den Fähigkeiten der Töchter, sich gegen das allgewaltige Wort der Väter zu behaupten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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