Unbekannter Autor Gedicht „Mühlrad“

UNBEKANNTER DICHTER

Mühlrad

Dört hoch auf jenem berge
da get ein mülerad,
das malet nichts denn liebe
die nacht biß an den tag;
die müle ist zerbrochen,
die liebe hat ein end,
so gsegen dich got, mein feines lieb!
iez fahr ich ins ellend.

15./16. Jahrhundert

 

Konnotation

Das Volkslied eines unbekannten Dichters aus dem 15./16. Jahrhundert hat zweihundert Jahre nach seiner Niederschrift in der Epoche der Romantik ein großes Comeback erlebt. Denn Joseph von Eichendorff (1788–1857) hat sein großes „Lied“ vom „zerbrochenen Ringlein“, das 1810 entstand (vgl. Lyrikkalender vom 1.8.2009), in seiner Motivik eng an die Volksweise vom „mülerad“ angelehnt. Wie bei Eichendorff symbolisiert die am Ende zerstörte Bewegung des „Mühlrads“ den Verlauf einer unglücklichen Liebe.
Es liegt nahe, dass Eichendorffs Aktualisierung und Fortschreibung des Volkslieds vom „Mühlrad “ nicht so sehr auf sein frustrierendes Liebesabenteuer mit der Heidelberger Bürgertochter Katharina Förster rekurriert, wie die Romantik-Forschung annimmt, sondern auf die produktive Auseinandersetzung mit dieser alten Volksweise. Während Eichendorffs „Lied“ in einem melancholischen Todeswunsch ausläuft, setzt der historische Referenztext in anrührender Direktheit neben ein Stoßgebet die Gewissheit vom Abstieg des lyrischen Ich ins „ellend“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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