Manfred Durzak: Zu Günter Kunerts Gedicht „Geschichte“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Kunerts Gedicht „Geschichte“ aus Günter Kunert: Verkündigung des Wetters. 

 

 

 

 

GÜNTER KUNERT

Geschichte

1
Leichter mal mal schwerer mal unerträglich:
Die währende Bürde.
Das allzeit fällige Urteil.
Was nie aufgeht ob wir uns multiplizieren oder
Uns reduzieren: die Rechnung. Aber immer
Präsentiert und präsent: Dir Ziffer mir Zahl. 

2
Nagelt den Zeiger fest schlagt ihn
Ans Kreuz das hält nicht auf den Verlauf den Ablauf
Nur gerechtenfalls: den Zulauf. 

3
Bei günstigem Licht dem anhaltend
Wechselnden und gunstvollem Aspekt läßt sie
Sich sehen: eine Kette
Scheu geschlängelt mal mal gestrafft
Schlangengleich unter sich erneuernden Häuten
Zwischen Maschine und Maschinisten: Einander
Oder Wer Wen halten sie fester als sie halten.

4
Die Revolution wo finden wir sie und wieder.
Unterm tückischen Marmor liegt siebenmal siebenfach
Sisyphos verdammt und unaufweckbar.
Lang lebe die unbesiegliche Inschrift. 

5
Aber wahr ist das Ungeheuerliche: Polyphem
Vorgeblich überlistet noch furchtbarer in Blindheit
Indem seine Höhle sich hinstreckt ins Dunkel
Der Zukunft und dort ist kein Ausgang zu sehen.

6
Sie ist über den Völkern.
An einem Faden.
Ein damokleischer Schatten: Deutschland
Unaufhörliche Wolke zwiefach zwieträchtiger Form.
Dabei wir dabei
Ins Universalische zu wachsen und an einem Kabel
In den Kosmos zu hängen zu schaukeln und frei
Uns zu fühlen vor allem von Gravitation von Atemnot von
Gedanken: einschneidenden ätzenden verletzenden
Wie
Die dort unten die kleine bläuliche Kugel zerfurchten
Das alte Gesicht
Leidstarre Miene darin keine Wunde vernarben will:
Wir steigen wir fallen stets tiefer
Als möglich.

7
Geschichte sage ich und weiter noch: Wenig bleibt.
Glücklich wer am Ende mit leeren Händen dasteht
Denn aufrecht und unverstümmelt dasein ist alles.
Mehr ist nicht zu gewinnen.

8
Was dauert ist grau und unauffällig
Unter allen Tritten. Was die Opfer ohne Augen glauben
Und die Mörder ohne Ohren sich denken und was doch
Die Lebenden verstummen müssen laut redet: wenn
Der Stein der Fels der Würfel der immer fällt
Und immer bleibt
Das ist das einzige und eine was ist.

 

„… unverstümmelt dasein ist alles.“

Die acht Epigramme, die eine poetische Reflexion von Geschichte enthalten, verdichten eine immer wieder neu ansetzende und abbrechende Denkbewegung, die nachzuvollziehen von einer Bedingung abhängig ist: von dem Stellenwert den diese Reflexionsbewegung in der Entwicklungsgeschichte des Autors hat. Die Geschichtlichkeit dieser Verse über die Geschichte ist also mitzubedenken, wenn man den Resonanzraum der poetischen Reflexion zu bestimmen versucht.
Kunerts künstlerische Individuation ist Teil einer historischen Wirklichkeitserfahrung, die von Nationalsozialismus, der Judenverfolgung, der Zerstörung Deutschlands und seiner politischen Zweiteilung geprägt ist. Und das um so mehr, als Kunert seine eigene (auch dichterische) Entwicklung mit der Entwicklung im sozialistischen Deutschland verband und, in seinen lyrischen Anfängen von Bertolt Brecht und Johannes R. Becher begrüßt, sich selbst auf längere Zeit als identisch mit der neuen politischen Richtung in diesem Teil Deutschlands empfand. In einem seiner frühen Gedichte aus dem Band Das kreuzbrave Liederbuch, dem Gedicht „Als ich ein Baum war“ (S. 30f.), hat er diese seine eigene Entwicklung bestimmende Geschichte dargestellt. Er geht aus von dem Zustand einer naturgeschichtlichen Harmonie, in der sich das Ich als organischer Teil der Natur empfand. Im Bild des im Erdreich verwurzelten Baumes wird dieser harmonische Zustand der Geborgenheit ausgedrückt: 

Als ich noch ein Baum gewesen,
Hielt ich mich mit Wurzeln
In der guten Erde fest
Und liebte die Erde, weil diese
Mich aus sich kommen läßt.

Das Älterwerden dieses sich noch mit der Natur im Einklang befindenden Ichs führt die erste entscheidende Situation der Desillusionierung herbei: die Konfrontation mit einer politischen Geschichte, die sich von der Naturgeschichte grundsätzlich unterschied, die Konfrontation mit der Realität des Nationalsozialismus, der die Welt in einen Schlachthof verwandelte: 

Weil ich aufwuchs, ragte ich endlich
Über Sträucher und Büsche hinaus:
Die Welt ward mir größer und weiter,
Zeigte Gaskammern, Galgen und Zellen
Und sah wie ein Schlachthof aus.

Damals habe ich mich entschlossen,
Nicht länger Baum mehr zu sein;
Und zog mich aus dem Boden mit Macht
Und mischte mich in das Leben der Menschen
Ganz unauffällig ein.

Die von der Zeitgeschichte erzwungene Entwurzelung wird nicht als eine passive Leidenserfahrung dargestellt, sondern als Akt eines erwachenden politischen Bewußtseins, das zugunsten einer humanen Geschichte die naturgeschichtliche Harmonie als Fluchtzone hinter sich läßt: 

Ein Baum! den der Anblick der Kämpfe
Aus den friedlichen Wäldern trieb!

Kunert hat in den fünfziger Jahren die politische Hoffnung geteilt, daß diese neue Gesellschaft, die auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges in Mitteldeutschland errichtet wurde, nicht nur die Entwicklungsrichtung einer humanen neuen Geschichte abgeben würde, sondern auch die naturgeschichtliche Utopie des Ursprungs wieder ermöglichen würde. In dem frühen Gedicht „Aufforderung zum Zuhören“ aus seinem Band Wegschilder und Mauerinschriften (S. 11) wird emphatisch verkündet: „GESTERN IST VORBEI“, und der Beginn einer neuen Geschichte proklamiert, die in die naturgeschichtliche Harmonie des Anfangs wieder einmünden würde: 

Laß mich die Arme recken und dir den
ersten Teil einer anderen Geschichte
erzählen, die neu ist.
Noch schreibt sie der Stift.
Noch druckt sie die Maschine.
In festen Lettern steht über ihr:
BALD IST MORGEN.

Und in dieser kriechen freche Buchstaben
und mutige.
Zeigen einen Waldweg mit hellen Fichten,
geliebten Wiesen und – hoch oben –
lautlos segelnden Vögeln in der Ruhe
des Tages.
Laß sie mich dir erzählen.

Mitte der sechziger Jahre, als die Gedichte der Verkündigung des Wetters erschienen, war die Schrift, die dieses Morgen schrieb, zum Teil bereits lesbar geworden. Die epigrammatischen Blöcke des Gedichtes „Geschichte“ sind in gewisser Weise Kunerts Versuch, diese nun teilweise eingetretene Zukunft zu lesen. Was sich ihm in dieser Schrift enthüllt, ist von der naturgeschichtlichen Utopie der Ursprungshoffnung weit entfernt.
Die im Muster von erreichten Leistungen und erfüllten Normen meßbar gemachte Geschichte bleibt widersprüchlich: eine Bürde, deren Gewicht ständig schwankt, ein Urteil, das keine Überzeugungskraft besitzt, eine Rechnung, die nicht aufgeht. Eine solche in Statistiken eines meßbaren Fortschritts gekleidete Geschichte erhebt den Anspruch, als seien ihre Zahlenwerte Stundenmarkierungen der voranschreitenden Zeit auf dem historischen Zifferblatt einer objektiven Entwicklung. Für das reflektierende Ich sind es nur zufällige Zahlen ohne Beweiskraft. Daher der Appell, diese Phantomuhr der geschichtlichen Progression als ideologisches Versatzstück außer Kraft zu setzen, indem man den imaginär kreisenden Zeiger blockiert. Freilich ist sich das Ich bewußt, daß das am tatsächlichen Verlauf der Ereignisse wenig ändern wird. Es würde nur die ideologische Anziehungskraft dieser imaginären Uhr für die Massen geringer werden lassen, die Überzeugtheit vom unaufhaltsamen Fortschritt eindämmen.
In den mittleren Epigrammen wird der Blick aus der Gegenwart in die Vergangenheit gerichtet. Die für die Gegenwart geltende Desillusionierung der Geschichte wird überprüft am Beispiel von überkommenen Verständnismustern, die an die Geschichte angelegt werden. In gewissen herausgehobenen Augenblicken, die von der Gunst einer besonderen Konstellation bestimmt sind, scheint Geschichte fast jeden Anspruch zu erfüllen, den die gesellschaftliche Umgebung postuliert, der sich der Autor Kunert zugeordnet weiß: Die geschichtlichen Ereignisse schließen sich im Bild einer Kette zusammen, einer kausal verknüpften Progressionslinie, die den Menschen mit seinem historischen Umfeld notwendig verbindet. Geschichte wird freilich hier zu einem Produkt des Menschen gemacht, zu seiner rationalen Konstruktion, zu einer Maschine, über die der einzelne als Maschinist, als Subjekt der Geschichte, zu verfügen vorgibt. Der Zweifel bleibt bestehen, ob es sich bei dieser Kette um einen Transmissionsriemen handelt, der die Maschine in Bewegung setzt und vorantreibt, oder nur um eine Art Seilschaft, durch die sich die Menschen an die geschichtliche Bewegung ankoppeln, um nicht abzustürzen:

Einander
Oder Wer Wen halten sie fester als sie halten
(15f.). 

Dieser Zweifel wird noch verstärkt, indem der historische Schub, der die Progression der Geschichte mit dem Ziel einer durch Veränderung zu erreichenden Humanisierung in Bewegung setzt, die Revolution nämlich, sich als Fata morgana enthüllt, die sich dem suchenden Auge ständig entzieht. Die Revolution erweist sich als ein rhetorisches Fanal, als eine „unbesiegliche Inschrift“ (20) im „tückischen Marmor“ (18) der Vergangenheit, unter dem, wenn man den Menschen als Handelnden freizulegen versucht, nicht das große historische Individuum erscheint, das der Geschichte seinen Stempel aufdrückt, sondern die mythische Figur des Sisyphos, der, auf ewig in den Hades verdammt, einen riesigen Stein auf einen Berg zu wälzen versucht und, vor dem Erreichen des Gipfels von dem Stein in die Tiefe gerissen, immer wieder zu seiner sinnlosen Anstrengung neu ansetzt. Das im Bild des Maschinisten die Geschichte steuernde und regulierende technokratische Subjekt wird im mythischen Ich des Sisyphos aufgelöst: der handelnde einzelne projiziert einen Sinn in sein geschichtliches Tun, das von der Schwerkraft der geschichtlichen Verhältnisse stets neu widerlegt wird.
Es ist auf diesem Hintergrund bemerkenswert, daß auch das zweite mythische Muster, mit dem das Verhältnis des Menschen zur Geschichte in der Vergangenheit bestimmt wird, die Mythe vom einäugigen Polyphem, die Aufmerksamkeit nicht auf den Gegner des Zyklopen lenkt. Nicht Odysseus, der sich mit seinen Gefährten in der Höhle des Zyklopen an dessen Käse labte und nur mit großer Mühe und nach dem Verlust von einigen Freunden, die der kannibalische Riese verschlang, aus der Höhle entfliehen konnte, um seine Heimreise nach großen über ihn verhängten Schwierigkeiten fortzusetzen – nicht Odysseus, der durch seine Umsicht und Klugheit die widrigen Verhältnisse immer wieder bezwingt, der überlebt und schließlich nach Hause findet, stellt die mythische Folie dar, auf der das menschliche Ich als in der Geschichte handelndes Subjekt gespiegelt wird. Es ist vielmehr Polyphem, der, nach dem Weingenuß von Odysseus und seinen überlebenden Gefährten im Schlaf geblendet, hilflos in der Dunkelheit seiner Höhle gefangen ist. Polyphems körperliche Kraft führt (in der Mythe) nur zu einem ohnmächtigen Wutanfall, hat aber keinerlei Einfluß auf die Ausweglosigkeit seiner Situation. Sisyphos und Polyphem in der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage treten als mythische Personifikationen des der Geschichte überantworteten einzelnen jenem Bild des technokratischen Subjekts gegenüber, das glaubt, die Geschichte wie eine Maschine in Bewegung setzen und steuern zu können.
Kunert hat 1979 in einem Briefwechsel mit Wilhelm Girnus „Anläßlich Ritsos“ indirekt einen Kommentar zu diesen Versen gegeben, indem er die von Girnus vertretene These, der Klassenstandpunkt entscheide letztlich über die positive Qualität der technologischen Entwicklung in der Moderne, als „hybride Phrase“ zurückwies: 

Daß nämlich Wissenschaft und Technik in der Hand ,fortschrittlicher Kräfte‘ keinesfalls die gleichen negativen Folgen wie im Kapitalismus zeitigten. Daß dieses klare Ideologem den Wert einer Seifenblase hat, muß nicht besonders betont werden: Es ist durch eine Realität widerlegt worden, in welcher eine volkseigene Industrie, unabhängig von ihrer andersgearteten Organisationsform und Besitzgrundlage, ebenfalls kein reines Manna in die Flüsse und Seen leitet und nicht schieren Sauerstoff von sich gibt. Aus einem sozialistischen Automobil, so ist entgegen aller ,wissenschaftlichen‘ Weltanschauung zu fürchten, kommt das gleiche Gift wie aus einem kapitalistischen, und es richtet sich überhaupt nicht danach, wer es fährt. (S. 850) 

Als voraussehbares Ergebnis dieser pessimistisch stimmenden Zukunftsentwicklung wird formuliert: 

Vor der Wahl: Verhungern oder sich vergiften, scheint keine dritte Möglichkeit eines Auswegs gegeben. Und dies ist nur ein Aspekt der schleichenden Katastrophe, vor der wir im Allgemeinen und Besonderen die Augen verschließen. (S. 851) 

Die schleichende Katastrophe, vor der wir die Augen verschließen, wird im sechsten Epigramm noch unter einem andern, einem politischen Aspekt sichtbar gemacht, der die historische Gegenwartserfahrung Kunerts einbringt: nämlich in einer Wirklichkeit leben zu müssen, die ideologisch und politisch zweigeteilt ist und als in sich gespaltenes Deutschland einen permanenten Unruheherd darstellt, eine politische Gefahrenzone, deren Bewältigung man verdrängt.
Der Mensch, der zur technologischen Eroberung des Weltalls ansetzt und durch seine Erfindungen Schwerkraft und Luftleere bei seinen Weltraumexkursionen bereits überwunden hat, ist gleichzeitig nicht in der Lage, das Naheliegende zu erreichen. Er vermag nicht jener Probleme Herr zu werden, die das Gesicht der Erde vor der Zeit altern ließen, es mit Wunden und Narben gezeichnet haben, die Oberfläche der Erde in eine Katastrophenlandschaft verwandelten:

Leidstarre Miene darin keine Wunde vernarben will.

Die Handlungen und Bewegungen, die die Menschen vollziehen, sind ohne jenes Maß, das sie sinnvoll und berechenbar macht. In den Versen „Wir steigen wir fallen stets tiefer / Als möglich“ (38f.) verdichtet Kunert das im mythischen Gleichnis von Sisyphos signalisierte sinnlose Auf und Ab von geschichtlicher Aktivität zu einer Formel der Hoffnungslosigkeit.
Von der naturgeschichtlichen Utopie, von der Kunert seinen Ausgangspunkt nahm und in die er die Entwicklungsdynamik einer sozialistischen Gesellschaft wieder einmünden sah, ist bereits Mitte der sechziger Jahre nichts mehr zurückgeblieben. In Gedichten später erschienener Sammlungen wird diese Desillusionserfahrung noch radikalisiert. So in dem Gedicht „Evolution“ aus seiner kürzlich erschienenen Sammlung Abtötungsverfahren (S. 12): 

Erde und Steine
Sand und Geröll
Ziegel und Quader
Zement und Beton
und immer wieder
wir

Zwischen Mauern marschieren
bedeutet: Es geht voran
Doch es leuchtet kein Licht
wo wir sind für uns mehr
und das Dunkel kommt
aus uns selber

Aus blinden Augen
fällt Finsternis
bevor die Hand
ins Leere greift.

Es ist deutlich erkennbar die Situation des in seiner Höhle gefangenen geblendeten Polyphem. Seine Höhle ist ein steinernes Labyrinth, das sich im Fortgang der Geschichte nur unter dem Aspekt der verwendeten Materialien verändert hat. Wo man einst Ziegel und Quader gebrauchte, verwendet man heute Zement und Beton. Es entstehen immer wieder die gleichen Mauertunnel, durch die man sich vorwärtszubewegen scheint, nur weil der Weg geradeaus führt. Blindheit, Finsternis und Leere sind die bleibenden Kennzeichen dieses Wegs.
Und auch in dem Gedicht „Unterwegs nach Utopia II“ aus derselben Sammlung (S. 76) wird die Vergeblichkeit und die Zurücknahme der naturgeschichtlichen Utopie akzentuiert: 

Auf der Flucht
vor dem Beton
geht es zu
wie im Märchen: Wo du
auch ankommst
er erwartet dich
grau und gründlich

Auf der Flucht findest du
vielleicht
einen grünen Fleck
am Ende
und stürzest selig
in die Halme
aus gefärbtem Glas.

Allerdings hat es den Anschein, als habe Kunert Mitte der sechziger Jahre noch an einem utopischen Hoffnungssignal festgehalten, das freilich nicht mehr verbunden ist mit der Vorstellung einer im geschichtlichen Prozeß zu erreichenden besseren, humanen Wirklichkeit. Unter diesem Aspekt wird im siebten Epigramm die Absage an die Geschichte nicht zurückgenommen. Die Einbettung des einzelnen in eine Geschichte, die von ihm beeinflußt oder gar verändert werden könnte, wird aufgekündigt. Der Appell, der an den einzelnen gerichtet wird, zielt vielmehr darauf, sich der Geschichte, ihren Erosionskräften, zu verweigern und das eigene Ich aus dem Sog des Vakuums zu retten:

Denn aufrecht und unverstümmelt dasein ist alles.
Mehr ist nicht zu gewinnen
(42f.). 

Dieses „Mehr“, das postuliert wird, bezeichnet freilich einen Gewinn, bei dem ausgespart wird, wie er denn zu erreichen wäre. Das „aufrecht und unverstümmelt“ wird weder von der Sisyphos- noch von der Polyphem-Mythe eingelöst: Sisyphos, der mit vor Anstrengung gekrümmtem Rücken den Felsen vorwärtszurollen versucht, Polyphem, dessen Auge verstümmelt wurde und der den Ausgang seiner Höhle nicht zu erkennen vermag.
Das wird im Schlußepigramm nochmals ausdrücklich bestätigt. Denn der Sinn des geschichtlichen Tuns, in das die Menschen verstrickt sind, erweist sich als Exzeß der Zerstörung, in dem sich die Menschen untereinander verstümmeln, in dem es nur Opfer und Mörder gibt, „Opfer ohne Augen“ und „Mörder ohne Ohren“ (45f.). Die in die Geschichte verstrickten Menschen, hinter deren politischen Taten ja einmal Zielsetzungen und Absichten standen, sind, als Opfer oder Mörder zugrunde gegangen, letztlich nur die Dokumentanion der Sinnleere. Es ist die pure materielle Indifferenz, die zurückbleibt, der ununterbrochene gleichgültige Kreislauf, der im mythischen Bildmuster des rollenden Sisyphos-Felsen angesprochen wurde und hier am Ende ein weiteres Mal variiert wird:

Der Stein der Fels der Würfel der immer fällt
Und immer bleibt
Das ist das einzige und eine was ist.

Das Hoffnungsdiktum des siebten Epigramms wird durch diese ,realistischeren‘ Bilder widerlegt, weil die Verkettung des Menschen mit seiner Umwelt, mit seiner geschichtlichen Umgebung keine Möglichkeit zur Befreiung, zum Fortschritt offenläßt.
Ist also die Zone der Integrität, in der das Ich sich zu bewahren versucht, nicht eine Wunschprojektion? Es sei denn, der im Gedicht vollzogene poetische Diskurs über das Verhältnis des menschlichen Ichs zur Geschichte zieht den Leser in eine Reflexionsbewegung hinein, die ihm als Erkenntnisertrag eine Ahnung davon vermittelt, wie er sich im geschichtlichen Prozeß verhält und eigentlich verhalten sollte.
In einem Diskussionsbeitrag zu der 1972 in Sinn und Form ausgetragenen Lyrik-Diskussion hat Kunert die Erkenntnismöglichkeiten des Gedichts so bestimmt.

[…] daß der Akt des Schreibens einer der Selbstbefreiung ist, des Selbstverständnisses, der Selbstverwirklichung, einer der einzig möglichen Individuation, nämlich der geglückten Identitätsfindung. (S. 1102)

Und er unterstreicht diese Feststellung noch:

Im lyrischen Subjekt, im Ich des Gedichts erscheint – und darum zur Befreiung berufen – das vollkommene (im Sinne von ,vollständig vorhandene‘) Individuum, exakt das, worauf jeder Sozialismus, der utopische wie der säkularistische abzielte und insistierte. (S. 1103)

Daß sich das Ich in der ästhetischen Dimension der Sprache seiner selbst bewußt werde, setzt freilich voraus, daß der Akt des poetischen Erkennens von einer verwandelten Sprache ausgelöst wird, die sich von dem Sprechen im rationalen Diskurs durch einen Qualitätssprung unterscheidet. Die von Kunert auch in diesen Epigrammen gewählte Sprachhöhe ebnet den Unterschied zur Umgangssprache ein, verschmäht poetische Intensivierungsmittel wie Metaphern und Bilderverschränkung, Reimbindung und rhythmische Musikalität, versucht, das gestische Sprechen im Gedicht, wie Brecht es entwickelt hat, fruchtbar zu machen: durch ungewohnte Wortstellung im Dienste rhythmischer Konturierung, durch syntaktische Verknappung und Verschränkung, durch die Lakonie des gedrungenen Satzes, durch das rhythmisch ausgegliederte und dadurch bedeutungsschwer gemachte einzelne Wort, das selten uneigentlich gebraucht wird, zumeist bezogen ist auf eine semantische Konvention, die von dem Vertrauen des Lesers zu dieser Sprache ausgeht. Zu dieser semantischen Konvention gehören auch die mythologischen Zitate, die Hinweise auf Sisyphos, Polyphem oder das Schwert des Damokles.
Wo sich in einzelnen Versen Widerstände gegen diese semantische Konvention aufbauen, geschieht es nicht primär durch innovatorische Kühnheit, sondern durch assoziative Verschlingung, die ein gewähltes Wort durch Alliteration wuchern läßt und unfreiwillig auf konventionelle Metaphern durchsichtig macht oder in rhetorischen Steigerungen zum Ornament werden läßt. Für das erste Phänomen wäre ein Beispiel die Verwendung der „Kette“ (12) für die geschichtliche Progression (im dritten Epigramm): das „geschlängelt“, „schlangengleich“ und das Bild der „sich erneuernden Häute“ (13f.) variieren den Topos der sich häutenden Schlange. Für das zweite Phänomen könne man auf die Wendung des „siebenmal siebenfach“ (18) im vierten Epigramm oder die Wendung von der „zwiefach zwieträchtigen Form“ (28) im sechsten Epigramm verweisen.
Ob solche Momente noch den Anspruch des poetischen Sprechens einlösen können, scheint nicht ohne weiteres klar, wie es auch nicht klar ist, ob auf der sprachlichen Ebene eines Diskurses, der in Kunerts Gedicht dominiert, das zu erreichen ist, was er für das eigene Ich und das Ich des Lesers erstrebt: die poetische Kristallisation der Möglichkeitsdimension des Menschen im Wirklichkeitssog der Geschichte, über die sich das Ich, desillusioniert und in Trauer, hinwegzusetzen versucht. 

1

Manfred Durzak, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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