Marie Luise Knott: Zu Werner Söllners Gedicht „Am Bodensee“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Werner Söllners Gedicht „Am Bodensee“ aus Werner Söllner: Der Schlaf des Trommlers. –

 

 

 

 

WERNER SÖLLNER

Am Bodensee

Kein Leck im Boot,
in der Haut kein Loch.
Die Freunde sind tot
oder sterben noch.

Wie es war und warum,
wen geht es was an?
Aufrecht oder krumm:
man geht, wie man kann.

Wovor dir graut:
was vergessen ist.
Ist die gerettete Haut
auch eine List?

 

Zwischen Gewiss und Ungewiss

Der aus Rumänien stammende deutschsprachige Lyriker Werner Söllner, der 1982 in die Bundesrepublik kam, hat vielfach in Naturbildern die Rückgewinnung der Welt beschworen. Auch bei dem Titel „Am Bodensee“ (1989 erstveröffentlicht) denkt man spontan an Wiesen, Bergkuppen oder Nebelschwaden. Doch Söllner hat, das wird sofort klar, anderes vor: Die Flucht ist heil überstanden, ohne Leck im Boot und Loch in der Haut. Seine Frage: Was geschieht nach der Flucht? Im Exil?
Das Heil trügt. Die ersten beiden Zeilen sind die einzig eindeutigen in diesem Gedicht. So ist es mit der Lyrik, sie schwingt im Niemandsland zwischen Gewiss und Ungewiss, und Söllner entführt den Leser in dieses Dichtergrenzland.
Wie es dort war, wo einer herkommt, der alle Zelte hat abbrechen und seine Freunde hat verlieren müssen, und warum einer überhaupt fortgeht und fortgehen muss, und wie es gelungen ist, dem Schicksal zu entrinnen und loch- und lecklos überzusetzen – das alles und noch viel mehr verbirgt sich hinter dem kurz-kargen „Wie es war und warum“. Jede Doppelzeile des Gedichtes, so einsilbig die Worte auch sein mögen, öffnet Welten. Der Vers „wen geht es was an“ enthält die doppelte Klage darüber, dass sich niemand für die wirkliche Geschichte eines Emigranten interessiert und sich diese auch nicht vorstellen kann. Gleichzeitig wird mit dem Vers jede Neugier und jedes Urteil aus dem Gastland schroff abgewiesen. Die Maßstäbe „aufrecht“ und „krumm“ erscheinen plötzlich als Konstrukte, die an den Verstrickungen des Alltags vorbeigehen. Söllner, ein Emigrant, den man für einen der Aufrechten hielt, verstört hier durch seinen Angriff auf Urteil und Vorurteil. Will er keine Maßstäbe gelten lassen? Heute lesen sich diese Verse – auch – wie eine vorweggenommene Exkulpation, denn im Dezember 2009 hat Söllner offenbart, vor fünfunddreißig Jahren, während seiner Studienzeit, als Redakteur der Zeitschrift Echinox, einige Jahre für den rumänischen Geheimdienst Securitate gearbeitet zu haben. Offensichtlich hat er dem Dienst keineswegs nur Banalitäten mitgeteilt, sondern allzu bereitwillig politische Anspielungen in den Gedichten seiner Kollegen Herta Müller, Rolf Bossert, Richard Wagner und Ernest Wichner entschlüsselt. In „Gerettet“ schrieb er, wie zur Rechtfertigung:

Daß sie so mächtig waren, sagen wir.
Und daß unser Schrecken so groß war,
größer als unsere Kraft.

Doch niemand hatte bisher darin ein Eingeständnis sehen wollen.
„Dichter sündigen nicht so schwer“, hat Goethe gesagt, und tatsächlich haben sie einen eigenen Himmel und eine eigene Hölle. Söllner erzählt aus seiner „Hölle“ und bietet dabei durch die Schönheit der Verse ein Stück Dichterhimmel. Die Hölle des Dichters – und um dieses Grauen geht es in den letzten Zeilen von „Am Bodensee“ –, die Hölle, das sind nicht die anderen und, so scheint es, auch nicht die Erinnerungen an den Verrat. Die Hölle des Dichters ist die Angst vor dem Versiegen der Worte und Bilder. Kann es sein, „graut“ ihm, dass die gerettete Haut nur um den Preis dieses Versiegens zu haben ist? Wäre die Rettung also eine Täuschung (List) oder gar, schlimmer noch, eine Ranküne (auch das eine List) der Diktatoren?
Durch die Arbeit für die Securitate haben die Zeilen „Aufrecht oder krumm: / man geht, wie man kann“ ihre große verstörende Kraft eingebüßt. Doch das Schwingen zwischen gewiss und ungewiss ist noch spürbar: Ein bis in die Einsilber durchgeformter minimaler Sprachgestus verbindet sich mit einem strengen, unpersönlichen Reim und Rhythmus, der nur kurz aufbricht. Mit diesen Grundmitteln poetischer Verdichtung hat Söllner kunstvoll Kargheit und Verlust des Exils ins Bild gesetzt. Schon länger ist es um seine Dichtung still geworden. Ob sich das ändert?

Marie Luise Knottaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfunddreißigster Band, Insel Verlag, 2012

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00