Mehret die Verssaden!!!

Kurz vor Ende des Sommerlochs

Mashup von Juliane Duda zu der Kategorie „adhoc“

adhoc

(das Transferfenster schließt immer später) gibt es noch einmal eine Lyrikposse à la Asta (Ist es zu weit aus der Feministenkurve hergeholt, dass mir als Randerscheinung dazu gleich noch „hasta la vista, baby“ aus Terminator 2 einfällt, der diese Woche als 3D-Reanimation in den Kinos startet?) Wer jedenfalls Genaueres zu der Wirkung eines spanischen Eugen Gomringer Gedichtes aus dem Jahre 1951 an der Hauswand der Berliner Alice Salomon Hochschule lesen will, kann das hier und hier tun. Bild, B.Z. und Welt sind natürlich auch vor Ort gewesen und Nora Gomringer sammelt weiterhin auf ihrer Facebookseite Kommentare, erklärt warum der Sexismusvorwurf gegen ihren Vater lächerlich ist und wünscht im Video „Gedichte Polizei Gom Ringer“ allen ZuschauerInnen ein und aus den 4 Strophen des Anstoßes. Weniger verbindend fällt die Erklärung von Prof. Dr. Bettina Völter im Namen der Hochschulleitung aus. Dafür zieht Felix Philipp Ingold einen Spannungsbogen vom „Fall Gomringer“ über den ,Fall‘ der konkreten Poesie zu den Fragen der Vollkommenheit in der Kunst.

Um das Gedicht auf dieser Häuserwand noch zu retten, gibt es den Kosten und Nerven sparenden Vorschlag einer Fortschreibung, genannt Kontexteinbindung. Deshalb ruft der Spiegel unter der E-Mail-Adresse spon_karrierespiegel_upload@spiegel.de dazu auf ihm einen 5. Vers (warum nicht Strophe?) zu schicken. Anonymisiert sollen diese Vorschlagsergänzungen dann auf Spiegel Online veröffentlicht werden. Auch unterhalb unseres Artikels kann man auf planetlyrik.de im Kommentarbereich Blumen hinterlassen. Dem Asta empfehlen wir die „Kleine Aster“ und die Entspannung der Flower-Power-Kinder. Der letzte Sonnenstrahl ist noch nicht geschrieben und das Gedicht

avenidas
avenidas y flores

flores
flores y mujeres

avenidas
avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres y
un admirador

 

(alleen
alleen und blumen

blumen
blumen und frauen

alleen
alleen und frauen

alleen und blumen und frauen und
ein bewunderer)

möge ungetüncht bleiben!

 

P.S. Solidaritätserklärung mit weiterführenden Links

Das Lyrische Quartett im Lyrik Kabinett vom 12.12.2017 spricht über Eugen Gomringers „avenidas“ und seine Auswirkungen.

 

 

P.S. Die Überschrift dieses Artikels stammt von Ina Kutulas, die uns auf dieses Genderschauspiel aufmerksam machte und Olga Martynova sucht inzwischen nach der Autorin Petra Menard um den Streit an der Hochschule zu beenden.

Schlußendlich: PressespiegelAbstimmung + Aufruf + Interview + E. G. + Familie

 

 

Überschreibung:

SIE BEWUNDERN SIE
BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN:
SIE WIRD ODER WERDEN GROSS
ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO
STEHEN SIE VOR IHNEN
IN IHRER SPRACHE
WÜNSCHEN SIE IHNEN
BON DIA GOOD LUCK.

Barbara Köhler

 

Sandra Kegel: Fassaden und Schwindel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.9.2018

Nina May: Ein Gedicht für Berlin
Hannoversche Allgemeine, 1.9.2018

Petra Kohse: Selbstgerechtigkeit statt Kunst
Frankfurter Rundschau, 31.8.2018

Marie Schmidt: Feministische Lyrik überschreibt patriarchale Kunst
Süddeutsche Zeitung, 30.8.2018

Anja Kühne und Christian Schröder: Das neue Gedicht für die Alice Salomon Hochschule
Der Tagesspiegel: 30.8.2018

Michael Angela: Salomonische Wand
der freitag, 8.9.2018

Thomas Rothschild: Die Existenz Gottes in der irdischen Wirklichkeit
faustkultur.de, 22.8.2018

Hannah Bethke: Ende der Debatte?
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.1.2019

Ingo Salmen: Gomringer-Gedicht jetzt doppelt an Hellersdorfer Fassade
Der Tagesspiegel, 23.2.2019

 

 

Plötzlich Bösewicht

– Der Schweizer Eugen Gomringer war eines der ersten Opfer der Identitätspolitik. Wie geht es dem Erfinder der konkreten Poesie heute? Ein Treffen. –

Man sieht ihm den Wüstling nicht an. Sein Gesicht wirkt asketisch, sein Wesen zurückgenommen. Zudem hat er Sinn für Humor. Wenn zur vollen Stunde der Vogel in der Wanduhr losschmettert, unterbricht er seinen Satz, um zuzuhören. Und dies selbst beim vierten Mal. „Schreiben Sie, beim Gomringer pfeifen die Vögel“, schlägt er vor. Und trotzdem, es bleibt der Fakt: Dieser 96 Jahre alte Herr hat Hunderte von Frauen „bedroht“ und „sexuell belästigt“. Manche verspürten lediglich „ein irgendwie komisches Bauchgefühl“, andere litten unter veritablen „Angstattacken“.
Diese Massenwirkung erzielte Eugen Gomringer mit nur sechs spanischen Worten, säulenartig auf der Südfassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule angeordnet. Er hatte der Schule das Gedicht schon 2011 geschenkt, als Gegengabe für den ihm verliehenen Poetik-Preis. Zum Entrüstungssturm kam es erst sechs Jahre später. Die Worte „avenidas, flores y mujeres“ – Alleen, Blumen und Frauen – waren nicht das Problem. Anders der „admirador“. Dieser Bewunderer, tadelten die Studierenden, schwärme unterschiedslos von Frauen, Alleen und Blumen, als wäre alles ein Ding. Schlimmer noch: Als Gaffer taxiert er die Frauen in „klassisch patriarchaler Kunsttradition“. Eine Haltung, die „unangenehm an die sexuelle Belästigung erinnert, der die Frauen täglich ausgesetzt sind“.
Erst zeigte sich Eugen Gomringer amüsiert, dann irritiert. Als ihn auch die Presse im Stundentakt anrief, beschloss er, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Alles eine Sache der Aufklärung. Offensichtlich war das gegnerische Lager so kunstfern wie ungebildet und hatte keine Ahnung von konkreter Poesie.
Im März 2018 traf Gomringer sich in Berlin mit seinen Kritikerinnen und Kritikern. Nur hundert Leute durften in den Saal, zu aufgeheizt die Stimmung. Als Geleitschutz nahm Gomringer seine Frau Nortrud und Tochter Nora mit, eine der bekanntesten Lyrikerinnen Deutschlands und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin. An diesem Abend freilich war sie in anderer Eigenschaft gefragt. Als bekennende Feministin mit geschärftem Blick für Altmänner-Sexismus galt sie gewissermassen als vom Fach. Zwecks Gedächtnisstütze liess sie das Gedicht auf A4-Blättern durchs Publikum wandern. Unnötig. Ganz Berlin kannte es längst auswendig.
Eugen Gomringer sass in klassischer Dichter-Eleganz – dunkler Sakko mit weissem Schal – auf dem Podium, flankiert von zwei Hochschulvertreterinnen. Erst war er ganz in seinem Element und sprach, wie immer, ohne einen einzigen Satz von der Stange. Erklärte, dass konkrete Poesie nicht nur zum Lesen, sondern auch zum Anschauen da sei, ja dass der Raum, in den sie plaziert werde, fast mehr zähle als die Worte. Dass die konkrete Poesie nie eindeutig sei und dass gerade die Offenheit der Interpretation ihren Reiz bewirke. Dem Saal war das egal. Frauen mit grün-violett gefärbtem Haar machten ihrer aufgestauten Empörung mit Gemurmel Luft, andere flegelten sich auf ihren Stühlen noch provokativer hin.
Eugen Gomringer kam immer seltener zu Wort, schliesslich verstummte er ganz. Hilflos mussten Nortrud und Nora in der ersten Reihe zusehen, wie er in die Rolle des störrischen Greises gedrängt wurde. Hängt halt einer veralteten Ästhetik nach. Merkt nicht mehr, dass er zum Stalking auffordert. Den Todesstoss versetzte dem Gedicht das deutlich helvetisch gefärbte Schriftdeutsch Gomringers. Seine Verse waren nicht nur sexistisch. Sie stammten auch aus dem Paradies des Bankgeheimnisses und der Steuerflüchtlinge.
Je lauter das unwillige Getuschel im Saal wurde, desto freundlicher gaben sich Gomringers Gegnerinnen auf dem Podium. Schliesslich weiss eine Fachhochschule für soziale Berufe, wie man mit Randständigen umgeht. Ihre Siegerinnen-Laune wuchs von Minute zu Minute; gegen Schluss erwogen sie gar, dem Gedicht ein Mitleidsplätzchen auf der Fassade einzuräumen, irgendwo ganz klein und ganz unten.
Verwundert, als sei er in ein falsches Stück geraten, verfolgte Eugen Gomringer das Geschehen. Schliesslich wurde er mit bestem Dank für seine Stichwortgeberdienste in dieser pädagogisch wertvollen Debatte entlassen.
Eugen Gomringer gehörte zu den ersten Kunstschaffenden, die die ganze Wucht der neuen identitätspolitischen Bewegung und ihrer Cancel-Culture zu spüren bekamen. Die Schlachtfelder der Gesinnungsprüfer sind die sozialen Medien, ihre Waffen bestehen aus drei Worten: sexistisch, rassistisch und antisemitisch. Mit ihnen lässt sich alles niederknüppeln, was nicht ins eigene Weltbild passt. Fündig werden sie überall. In den Museen hängen Bilder, die den weiblichen Körper „passiv-dekorativ“ zeigen. In den Läden liegt ein Schokogebäck namens Mohrenkopf, und weg muss auch eine weisse Übersetzerin des Gedichts, das die schwarze Dichterin Amanda Gorman bei der Amtseinführung Joe Bidens vorgetragen hatte.
Anders als bei den klassischen Linken geht es hier nicht um Mindestlöhne oder das Wohl der Arbeiterschaft. Es geht um die eigene Befindlichkeit und einen neuen Feind: den alten weissen Mann. Am besten, der Fehlbare verliert gleich seinen Job. Oder wird, wie Eugen Gomringer, aus dem öffentlichen Diskurs verbannt.
Letzteres freilich klappte nicht auf Anhieb. Kaum hatte eine Putztruppe sein Gedicht beseitigt, flatterte es auf einem Banner neben dem Brandenburger Tor und lief, als Solidaritätsbekundung weithin sichtbar, über das digitale Leuchtband am Springer-Hochhaus. Schliesslich tauchte es, nun sogar beleuchtet, auf zwei neuen Berliner Fassaden auf. „Das freut die Altmänner, deren Sehschärfe nicht mehr so ist wie früher“, lautete der Kommentar in den sozialen Medien. Dann weitete die identitärpolitische Bewegung die Kampfzone aus. Jetzt ging es nicht mehr um Alt gegen Jung und Mann gegen Frau. Jetzt ging es um Provinz gegen Hauptstadt. Wie erschrocken, malte sich eine Aktivistin aus, mussten die „Hinterwäldler-Seppel“ in Gomringers oberfränkischem Wohnort Rehau über ihre plötzliche Hauptstadt-Publicity gewesen sein:

Allmäächdd, da horch, über uns hams woss gschrieem in Berlin.

In Rehau sah man das genau umgekehrt. Die Hinterwäldler – das waren die Berliner. Offenbar wussten sie nicht, dass Gomringer als Erfinder der konkreten Poesie weltberühmt ist und dass es sich beim Gedicht „avenidas“ um sein frühes Schlüsselwerk handelt. Entsprechend gross sind Ehre und Respekt, die ihm das Städtchen erweist. Hier ist er überall der Herr Professor, schliesslich war er 13 Jahre lang Professor für Ästhetik an der Uni Düsseldorf. Auch beeilt man sich, seine Wünsche zu erfüllen. Als er Räume für seine Sammlung konstruktiver Kunst benötigte, baute der Ort ein altes Schulhaus ins „kunsthaus rehau“ um. Im ersten Stock befindet sich Gomringers Institut für konstruktive Kunst und konkrete Poesie, darüber liegen seine beiden Privatwohnungen.
Nach dem Berliner Skandal erhöhte das Städtchen die Streicheleinheiten noch. 2018 bekam Gomringer den Kunstpreis des Landkreises Hof; 2020 taufte man das Kunsthausareal mit seinen 26 Skulpturen in „Eugen-Gomringer-Platz“ um. Und natürlich steht auch das „avenidas“-Gedicht auf der schönsten Fassade am schönsten Platz.
Weil Eugen Gomringer die monströse Kaffeemaschine im Ausstellungsraum in Rehau nicht bedienen kann, ziehen wir hinauf in seine Wohnung. Die Steintreppen nimmt er ohne vernehmbares Atmen, der tägliche Weg zum Briefkasten gehört zu seinem Sportprogramm. Auch ersetzt die Masse an täglicher Briefpost leicht eine Hantel. Denn Eugen Gomringer schreibt und erhält noch wirkliche Briefe. Muss es flinker gehen, schickt Sohn Stefan, Kurator des Museums und selbst Künstler, eine Mail.
Hasspost ist seltener geworden. Er findet sie so lästig und unwichtig wie die Reklameflyer, die man aus den Zeitungen schüttelt. Hat er je ein Schuldgefühl verspürt?

Dafür ist der Glauben an mich selbst zu stark.

Sind Verletzungen zurückgeblieben?

Höchstens eine Art Enttäuschung.

Er hatte gehofft, den Skandal in eine PR-Aktion für die konkrete Poesie ummünzen zu können. Dabei beherrschten diese Menschen kaum das Alphabet.
Fragen zum Skandal empfindet er als pure Zeitverschwendung. Zwar tut er so, als wolle er sich erinnern. Dann spricht er lieber vom wirklich Wichtigen, von seinen Gedichten, die eben ins Spanische übersetzt werden. Oder greift wahllos in den Briefstapel auf seinem Schreibtisch und schlitzt einen Umschlag auf. Es erscheint ein mit Seidenpapier umwickeltes Manuskript, ein zarter Faden hält die Blätter zusammen. Einmal mehr bittet jemand aus der Konkreten-Poesie-Gemeinde um Absolution durch ihren Hohepriester. „Männer verlaufen sich gern in schwierigen, komplizierten Systemen“, sagt Gomringer. „Frauen prüfen viel strenger. Sie sind heute führend in der konkreten Poesie.“ Ihre Blütezeit, egal ob Mann oder Frau, ist kurz. „Zwischen vierzig und fünfzig“, schätzt er. Vorher haben sie zu wenig Lebenserfahrung. Später sind sie zu saturiert und sehen den Sinn des Spielens mit Worten und Raum nicht mehr ein.

Die Jungen, das sind bei uns die Vierzigjährigen.

Die Bücher dieser Poetinnen und Poeten werden kaum besprochen, mehr als 50 Exemplare nicht gedruckt. Dafür kennen sie ihre Leserinnen und Leser persönlich, ja man besucht sich sogar gegenseitig. Ein Fan lebt in Südkorea, ein zweiter in São Paulo, in New York sind’s gleich drei. Auch die beiden Ärzte von der Berliner Charité kaufen regelmässig das neuste Bändchen. „Wir sind im Kleinen eine grosse Runde und halten das Abendland in Fluss“, sagt Eugen Gomringer.
Seine Wohnung zeigt er mit der Routine eines Fremdenführers. Bedrucktes Papier in jeder Form und Farbe quillt aus Gestellen und Schubladen, bedeckt in jahrelangen Ablagerungen jede nur mögliche Abstellfläche. Will man sich setzen, muss der Stuhl erst freigeschaufelt werden. Dass hier lauter Möbelklassiker aus Leder und Metall stehen, zeigt sich erst auf den zweiten Blick. „Da zum Beispiel“, sagt Eugen Gomringer und dreht mit Schwung einen Sessel um:

Max Bills berühmte Kreuzzargen-Verbindung.

Bill hängt auch mehrfach an der Fotowand. Daneben sind die anderen Berühmtheiten, mit denen ein kunstaffiner Schweizer mit Jahrgang 1925 Kontakte pflegte: Dürrenmatt und Frisch, Gropius und Dalì, beispielsweise.
Auf die Idee der konkreten Poesie hatte ihn 1944 eine Ausstellung der Zürcher konkreten Künstler gebracht: Bill, Lohse, Graeser, Loewensberg. Eine weitere Inspirationsquelle waren die Bauhaus-Designer. So wie diese nach der zweckmässigsten Form für alltägliche Gebrauchsgegenstände suchten, sollten auch seine Gedichte nur die notwendigsten Worte besitzen. „Handlich werden“, sagt Eugen Gomringer. Zum Spielen auffordern, seine Möglichkeiten erforschen.
Die Leser müssen sich das Gedicht gewissermassen erwerben.
Seine ersten Gedichte erschienen 1953 unter dem Begriff „Konstellationen“. Der sperrige Name sollte allfällige Schwärmer warnen: Hier geht es um den Kopf, nicht um Gefühle. Bis heute bleiben sie die einzige Erfindung in der deutschen Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Revolutionäre freilich erkannten damals nur wenige, darunter Werner Weber von der NZZ. In der übrigen Schweizer Presse hagelte es Verrisse:

Gomringer kann nur stottern.

Eine Zumutung, dieses Verhackstücken der Sprache ohne Punkt und Komma. Ausserdem hat man in einem Land, das berühmt ist für die Präzision seiner Uhren und die Tüchtigkeit seiner Banker, wenig Lust zum Spielen. Assoziationschaos im Hirn? Lieber nicht.
Auch die Linken sahen sich enttäuscht: Der Gebrauchswert der Gedichte war gleich null. Lyriker wie der Berner Pfarrer Kurt Marti riefen in ihren Werken zu mehr Gerechtigkeit und einer sozialeren Politik auf. Eugen Gomringer empfindet jegliche Art von Weltverbesserei in der Poesie so unpassend wie eine Trillerpfeife in einem Klavierkonzert.
Nicht nur Rehau ist stolz auf Eugen Gomringer. Auch Bolivien bezeichnet ihn durchweg als bolivianischen Dichter. Seinen Anspruch bekräftigte es mit einer Ehrendoktorwürde. Dabei hatte ihn sein Vater, Direktor einer Kautschuk- und Gummifabrik, schon mit drei Jahren zu den Grosseltern nach Zürich geschickt. Dort war die Freude gross:

S Negerli chunnt!

Doch von Negerli keine Spur. Höchstens Gomringers starke, gewissermassen mit dem Spachtel geformte Züge erinnern an seine Mutter, eine bolivianische Mestizin und Analphabetin, die mit seinem Vater in wilder Ehe lebte. Er vermisste sie nicht. Besuchte sie ihn in der Schweiz, sah er in ihr bald nur noch eine nette Tante. Denn im durch und durch bürgerlichen Zürich bekam er alles, was ihm gefiel: Liebe im Haus der Grosseltern, Ordnung und Disziplin in Schule und Alltag. Mit 16 besass er sein eigenes Gewehr, mit 19 war er Leutnant. Eine Karriere, wie sie der Zweite Weltkrieg möglich machte. Sein Berufswunsch: Instruktionsoffizier.
Militärischer Drill bestimmt bis heute Eugen Gomringers Tagesablauf. Jeden Morgen steht er um 6 Uhr auf und faltet die Kanten seiner Leintücher so präzis, wie er das in der Rekrutenschule gelernt hat. Zwischen 7 und 8 sitzt er am Frühstückstisch und liest die Zeitung. Danach arbeitet er Vollzeit. Abends bei der Tagesschau stellt er häufig den Ton ab. Deutsch ist ihm zu platt und schlampig geworden. Französisch findet er analytischer. Auf seinem Nachttisch liegt neben Kant immer auch ein französischer Krimi.
Aus seiner bürgerlichen Verankerung bezog er sein Leben lang Reserven. Nie hatte er das Gefühl, etwas gelten zu müssen. Er galt ja schon etwas. Ohne zu zögern, schritt er über die Schwellen der Türen, die sich ihm überall öffneten. 1954 holte ihn Max Bill als persönlichen Sekretär an die Ulmer Hochschule für Gestaltung, 1961 machte ihn der Schweizerische Werkbund („Die gute Form“) zum Geschäftsführer, 1967 stellte ihn Philip Rosenthal als Kulturbeauftragten für seine Porzellanfabrik an. Mit der Stellung verbunden war ein Schloss als Wohnsitz. „Ich hab noch nie in einer Mietwohnung gelebt“, sagt Eugen Gomringer.
Ähnlich gehoben war der Standard seiner Autos. Den Geschmack für Luxuswagen teilte er mit anderen Schweizer Schriftstellern seiner Generation. Einmal, erinnert er sich, sprach man an einer Schriftstellertagung hauptsächlich darüber, ob Max Frisch einen Jaguar fahren dürfe. Heute steht in Gomringers Garage ein alter BMW. „270.000 Kilometer, aber hochgepflegt“, sagt er. Leisten konnte er sich seinen Lebensstil dank einem mit merkantilem Sinn gepaarten Kunstsinn. Schon als Student in Bern hatte er seinen Malerfreunden Bilder abgekauft. Daraus entstand eine Sammlung, die dem ersten deutschen Museum für konstruktive Kunst in Ingolstadt 1992 fast eine Million Franken wert war. Seine mittlerweile dritte Sammlung hat er der Stadt Rehau vermacht. Dafür bezahlt er keine Miete. „Allein diese Ecke“, sagt er und deutet auf die Bilder im Esszimmer, „könnte ich 20 Jahre lang abwohnen.“
Auch privat fuhr er stets auf der Überholspur. Seine sieben Söhne und die Tochter Nora stammen von drei verschiedenen Müttern. Man darf sich das Familienleben nicht allzu eng vorstellen. Die Arbeit war immer wichtiger. Zudem hielt Eugen Gomringer seine Kinder schon früh dazu an, möglichst wenig Emotionen zu zeigen. Bis heute ist ihnen die Bezeichnung Vater zu ranschmeisserisch. Sie nennen ihn lieber bei seinen Initialen EG.
Sie wahrten auch Distanz, als der Lärm um sein Gedicht die feine Stille störte. Einer Instanz wie EG drängt man weder Verständnis noch Anteilnahme auf. Zwar erwogen sie, juristisch gegen die Hochschule vorzugehen. Doch EG reuten Zeit und Geld.
Nur die beiden Frauen in der Familie hatten ihre Emotionen nicht im Griff. Tochter Nora fand es „zum Kotzen“, ständig gefragt zu werden:

Ist Ihr Vater Sexist?

Ebenso widerwärtig war ihr der Applaus von rechts, dieses augenzwinkernde „Die Mädels sollen doch froh sein, dass sie überhaupt ein Mann anguckt“. Noch stärker litt Gomringers Gattin Nortrud, eine Germanistin und Sprachforscherin, unter dem Shitstorm. Sie wagte morgens kaum, den Computer hochzufahren. Täglich schwappte ihr eine neue Ladung Hassmails entgegen. Kam dazu, dass sie sich, ganz alte Schule, zur Beantwortung der beinahe 2.000 Schreiben verpflichtet fühlte. Bereits gesundheitlich angeschlagen, starb sie im letzten Dezember mit 79 Jahren.
Auf der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule steht jetzt ein neues Gedicht. Eine ehemalige Studentin und spätere Altenpflegerin hat es geschrieben. Statt Conquistadoren-Spanisch gibt’s jetzt das politisch korrekte katalanische „Bon dia“, statt einen männlichen Bewunderer eine „sie“. Natürlich musste das Gedicht erst einen mustergültig hochschuldemokratischen Prozess durchlaufen. Alle Betroffenen spürten tief in sich hinein und prüften das Werk Wort für Wort auf seine Unbedenklichkeit hin.

Margrit Sprecher, Neue Zürcher Zeitung, 3.5.2021

2 Antworten : Mehret die Verssaden!!!”

  1. Redaktion sagt:

    5. Strophe

    Allein
    Der Asta und die Aster

  2. Therese sagt:

    5. Strophe

    Was guckst du!?

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