Miodrag Pavlović: Miodrag Pavlović und sein Gedicht „Epitaph des slawischen Urdichters“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Miodrag Pavlović und sein Gedicht „Epitaph des slawischen Urdichters“. –

 

 

 

 

MIODRAG PAVLOVIĆ1

Epitaph des slawischen Urdichters

Wegen unserer alten Lieder
nannten sie mich Ketzer und Feind
in diesem neuen Glauben.
Das Unkraut der alten Gesänge rissen sie aus
als stünde ihre Kirche dann fester
und mich begannen sie zu hassen!

Ich endete im Elend,
bei Dunkelheit begraben,
als Spukgespenst träumen sie mich,
aber ich bin nie auferstanden von den Toten!

Auch jetzt wo sie mich wecken stehe ich nicht auf –
das jüngste Gericht, was ist das? –
sie schrein mir in die zernagten Ohren:
Heide, steh auf und nimm deinen Körper!
Woher ihn nehmen, frage ich,
als sei sich erinnern so leicht, bei diesem Getümmel
das die Grotten meines Schädels zermalmt.
Setzt eure Posaunen ab, Engel
geht über mein Grab nicht mit Sporen,
himmlische Krieger.

Ich bleibe wo ich bin
in der Erde meiner Sprache,
mich richtet ihr nicht auf euren Konzilen,
mich werft ihr nicht unter offene Himmel
auf den kalten Rost der Ewigkeit!

Sollen doch die andern eingehn
in die Wahrheit ihres Gottes,
mir ist meine Grube gut genug
wo mich wie ein Schafsfell uralte Worte wärmen
und sich die Gusla unterirdisch
mit der Erinnerung befruchtet.

 

Wie entsteht eigentlich ein Gedicht,

so fragt man zuweilen. Mich als Dichter interessiert mehr die Fortsetzung dieser Frage: Wann können wir zugeben, daß ein Gedicht entstanden ist? Wir können die erste Niederschrift, die erste Verbindung von Worten, die sich uns zeigte, für ein Gedicht erklären. Es gibt Poetiken, die die erste Niederschrift des Gedichts empfehlen als den reinsten Ausdruck der Inspiration, den jede weitere Ausarbeitung nur verdunkeln, verfälschen, rationalisieren könne. Andere betrachten den Werdegang des Gedichts als einen Entstehungsprozeß von der ersten Niederschrift bis zur letzten Version des Gedichts, bis zu dem Augenblick also, wo der Dichter selbst sein Gedicht als beendet akzeptiert. Was kann man als den Anfang des Gedichts erachten: die erste Bilderflut im Bewußtsein des Dichters, das erste unbegreifliche Beben von Sensibilität und Emotion, oder der besser begreifliche Arbeitsprozeß am Gedicht, seine schöpferischen Metamorphosen, die Richtung seiner Bewegung, wie sie aus den Manuskripten ersichtlich wird?
Ich glaube nicht, daß die Zahl der Gedichte, die ein Dichter schreiben kann, unbegrenzt ist – die Frage nach der Entstehung jedes einzelnen Gedichts soll man nicht stellen. Jeder Dichter hat einige grundsätzliche Antworten, einige Vibrationen, einige Situationen, um deretwillen er zum Dichter berufen ist. Von dorther variieren die Dichter in ihren Gedichten einige ihrer Erfahrungen, auch dann noch, wenn sich die Formen des Ausdrucks sichtbar verändern. Ganz einfach gesagt: ich glaube, daß auch reiche dichterische Persönlichkeiten in ihrem Leben nur einige Dinge zu sagen haben, auch wenn sie viele Bände Lyrik schreiben. Darum ist für mich die Entstehung des Gedichts im Grunde eine Rückkehr zum Gedicht, der erneute Versuch des Gedichts, das Eingeständnis seines unvollendeten Zustands, das Ritual der Rückkehr und des erneuten Schreibens des Gedichts. Das Beste, was der Dichter tun kann, ist daher, seine Gedichte sich nicht zu verfremden, sie nicht als vollendet zu betrachten, nicht zu denken, er werde im zweiten Gedicht sagen, was er im ersten nicht gesagt hat, denn dann wird er weder im ersten noch im folgenden genug sagen. So ist es nicht nur mit der Kunde, die er mitteilt, sondern auch mit den Formen, die zu schaffen er berufen ist. Er kann viele Formen wiederholen, aber er kann eine jede neue Aufbietung der Formen in nur sehr begrenzter Zahl von Varianten geben. Er muß zu seiner Form zurückkehren wie zu seinen Gedanken. Aber: sich nicht von seinem Gedicht zu distanzieren, das ist auch das Schlimmste, was ein Dichter tun kann, denn dann kann er nie sein Gedicht sehen, dann kann er nie seinen eigenen Dialog mit dem Gedicht überhaupt beginnen.
Zwischen zwei Möglichkeiten oszillieren die für den Dichter schicksalhaften Entscheidungen: zwischen der Scham, von neuem das zu sagen, was er bereits gesagt hat, und dem Wunsch, sich im Rhythmus seines Lebenspulses auszudrücken.
Für einen Dichter, der sonst über die Dichtung anderer Dichter schreibt, ist es eine schwere Aufgabe, über seine eigenen Gedichte zu sprechen. Die Analyse oder die Interpretation seiner eigenen Texte können selbst bei angeblicher Objektivität nicht von Wert sein. Es ist nicht einmal empfehlenswert, über die Intentionen beim Gedichteschreiben zu sprechen, denn auch sie könnten unbescheiden klingen, oder mit der gefährlichen Autorität des Autors unsere Aufmerksamkeit auf sekundäre Werte lenken, während der Leser, wenn er Werte im Gedicht findet, gewöhnlich andere Qualitäten unterstreicht. Diejenigen, die über die Entstehung eines ihrer Gedichte sprachen, sprachen am besten, wenn sie Autobiographisches erwähnten, beinahe Privates, aber auch dann, wenn ihre Angaben den Sinn des Gedichts ergänzten. Warum wurde der Sinn, wenn er notwendig ist, nicht im Gedicht selbst bis zu Ende gesagt?
Woran erinnere ich mich im Zusammenhang mit dem Werden des Gedichts „Epitaph des slawischen Urdichters“? Ich erinnere mich, daß ich einmal aus dem Traum, wie aus dem Grabe erwacht, voll unmotivierten Zorns vor einigen Jahren die Skizze einiger Verse niedergeschrieben habe, die ein Ketzer in Empörung gegen das Jüngste Gericht sagt, weil ihn der Gedanke daran beunruhigt. Er spürt, daß niemand das Recht hat, über ihn im Namen irgendeines Dogmas zu urteilen, aber er weiß nicht, ob er begnadigt wird, denn zu Gericht sitzen die, die die Macht haben, nicht diejenigen, die denken. Diese erste Notiz blieb zwischen anderen Aufzeichnungen liegen. Zwei, drei Jahre später, als sich durch andere Gedichte der imaginative Rahmen meines neuen Gedichtbandes formierte, kehrte ich zu dieser Notiz und zu diesem niedergeschriebenen und im Gedächtnis bewahrten Gefühl zurück. Das Gefühl verlangte einen konkreteren historischen Rahmen, der neben aller Konkretheit auch die Möglichkeit zu Analogien zuließ. Es war die Rückkehr zu einem Gefühl, das eine größere dramatische Spannweite bekommen mußte durch seine dramatische Konkretisierung, durch die Situierung ins Mittelalter, in den kulturellen Umbruch, der entstanden war im Zusammenstoß des neuen, christlichen Glaubens mit den alten Stammestraditionen. Diese Rückkehr zu einer Anzahl von Gefühlen, die Ausarbeitung des emotionalen Bildes zur bestimmten dramatisch-historischen Situation passierte mir auch in anderen Gedichten, und diese Arbeitsweise am Gedicht ist zu einer unausweichlichen Regel geworden. Diese Arbeitsweise schien mir schon seit mehreren Jahren wesentlich für das schöpferische dichterische Vorgehen. Es schien mir eine Rückkehr zu einem Ort in der eigenen Innerlichkeit, eine Rückkehr, die die Permanenz eines Rituals hat, und die eine Reaktualisierung bestimmter grundlegender Bildsituationen durch die Lebenserfahrung bedeutet. Die Vollendung und Erklärung des Gedichts bedeutet den Versuch, daß man zu diesem Ritual der Rückkehr auch die anderen hinzuzieht.
Aber das Gedicht entsteht nicht nur im Dichter, es entsteht auch in der Sprache, die sich des Dichters zu ihrer Erfrischung, zu ihrem Aufschwung bedient. Die Sprache hat ihre Entwicklung und ihre Geschichte, sie hat ihre gelösten und ungelösten Probleme in sich, ihre Entwicklungsstufen, die sie schon durchlaufen hat, und diejenigen, die noch vor ihr liegen, ihre ureigenen Reize und ihre schwer korrigierbaren Mängel. Sie muß der Dichter tief empfinden und für sie muß er im Gewebe seiner augenblicklichen Sprachsituation eine eigene dichterisch-sprachliche Aufgabe finden. Die Lösung dieser Aufgabe wird sich nicht nur direkt in seinem Sprachgebrauch widerspiegeln, sondern auch in seinen formalen und imaginativen Versuchen, sogar in seinen Gedanken und seinen emotionalen Vibrationen. Deshalb glaube ich, daß die heutzutage ziemlich verbreitete Tendenz zu formaler Universalität des dichterischen Idioms in ihrem Wesen das Symptom einer oberflächlichen Standardisierung der Produkte in unserem Industriezeitalter ist. Und wir glauben nicht an die Rettung der Dichtung durch die Gleichstellung mit Industrieprodukten. Die Dichtung existiert auf anderen Grundlagen und bewegt sich nach anderen Gesetzen. Die farblosen und unpersönlichen Produkte des heute verbreiteten, standardisierten, modernen dichterischen Idioms, in dem niemand mehr weiß, wer der Lehrer und wer der Schüler ist, können als Ware eines breiten Konsums dienen, aber sie werden den Konkurrenzkampf mit anderen Artikeln sicher verlieren.
Die Sprache als auch der dichterische Ausdruck haben in jeder Literatur in jedem Augenblick ihre historischen Bedingungen, ihre Voraussetzungen, die sich nie völlig decken und synchronisieren, das aber bedeutet nicht, daß eine Kommunikation der Lyrik in verschiedenen Sprachen unmöglich wäre. Ich glaube, daß die Dichtung in ausreichendem Maße Sprachgrenzen überschreiten kann, aber ich vertraue nicht der Uniformität der heutigen Lyrik und nicht dem vereinigten Weltstaat der Dichtung, der begründet ist auf der Vernachlässigung des sprachlichen Faktors. Ich glaube nicht an die Universalität der Dichtung durch die Imitation, sondern an die Universalität der Dichtung durch die Einheit ihrer enigmatischen anthropologischen Wurzeln.
Wenn Gedichteschreiben die Rückkehr zum Gedicht ist, müssen wir wissen, wohin wir zurückkehren. Wir kehren zu unserer Erfahrung zurück, zu unserer Sprache, unserer Form, wir kehren zurück zu dichterischen Bildern, die schon an sich vollständige visualisierte dramatische Situationen sind. Wir können nicht zurückkehren zur Willkürlichkeit, zur Improvisation, zur Kaprice, und der Dichter kann auch nicht für Rigidität und Statik plädieren. Der Dichter hat das Bedürfnis, seine eigene Vision zu reinigen, sie in ihrer klarst möglichen Form zu geben, wobei er zuerst sich selbst darüber Rechenschaft ablegen muß, was diese Vision zu bedeuten hat. Zufällige Bilder und Assoziationen, ohne die der Dichter nicht imaginieren kann, verlieren sich allmählich, im Laufe seiner Rückkehr zum Ausgangspunkt des dichterischen Erlebnisses. Auf dem Weg zum innerlichen Ritual des Gedichts verschwindet das Willkürliche, verschwindet das Arbiträre, außer dem Willkürlichen, das allein zum zielhaften Symbol wird. Und jetzt, wenn der dichterische Ausdruck allmählich weniger zufällig wird, nähert er sich den Modellen des mythischen Denkens. Der Mythos ist nicht nur das mögliche Ziel der dichterischen Aussage, er ist eines der mächtigen Instrumente der dichterischen Sprache. Und neben seiner inhaerenten Vieldeutigkeit ist der Mythos imstande, dem Öffnen der dichterischen Sprache zu helfen, d.h. der Übertragung der Rede des Dichters aus dem privaten in den öffentlichen, universaleren Bereich. Das kann ein ganz natürlicher Prozeß sein, dieses Umgießen von Bildern aus dem privaten Arsenal dichterischer Erlebnisse in Bildsituationen der kollektiven Erinnerung. Der Mythos hat Dauer und er dringt in die Zukunft hinein. Er wird Gegenwart, obwohl die Gegenwart nicht ihr eigener Mythos werden kann. Die Gegenwart ist nur seine Aktualisierung. Die Gegenwart kann nicht zum Mythos werden, denn sie ist zu kurz, unermeßlich kurz. In dem Augenblick, in dem sich ihre tieferen Beziehungen enthüllen, hört sie bereits auf, Gegenwart zu sein, sie wird Zeit, und durch die Zeit wird es für sie möglich, ein Teil des Mythos zu werden.
Es besteht also nicht die Gefahr, daß der Dichter außerhalb der Zeit steht. Durch die Sprache wie auch durch den Mythos, durch die Imagination und durch seine Erfahrung steht der Dichter immer mindestens mit einem Fuß in der Zeit. Aber obwohl er unvermeidlich und unbewußt schon der Zeit angehört, kann der Dichter auch die Art und Weise seiner Zugehörigkeit zur Zeit wählen. Er kann sich seiner Zeit im Namen von Werten, die nicht nur die Werte seiner Zeit sind, zuwenden oder er kann über seine Zeit sprechen vor dem Angesicht dieser Werte. In anderen Worten: Er kann über die Transzendenz zu seiner Zeit reden oder über seine Zeit vor dem Antlitz der Transzendenz sprechen. Aber in beiden Fällen ist die Dichtung Teil der Geschichte und zur selben Zeit ist sie ein Beweis, daß Geschichte nie nur im engen Sinne des Wortes ist.
Die Geschichte ist der beste Beweis gegen sich selbst.

Miodrag Pavlović, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969

 

„Erinnerung“, „Ursprung“

sind Stichworte in den Buchtiteln von Pavlović; das Stichwort „Mythos“, das in Unterhaltungen mit Vasko Popa nicht auftaucht, – hier erscheint es. Gegenwart sei Aktualisierung des Mythos. Pavlović versucht diese Aktualisierung in halb parodistischer, aufklärerischer Tonart, so, als seien seine Aufforderungen und Feststellungen in Anführungszeichen gesetzt:

Heide, steh auf und nimm deinen Körper!
Woher ihn nehmen, frage ich,
als sei sich erinnern so leicht, bei diesem Getümmel. …

So heißt es in dem Gedicht über einen slawischen Urdichter.
Die Geschichte gibt Einblick in die auch heute gültigen Paradigmen. Ob es der Wächter von Athen ist, Pindar auf dem Spaziergang oder die Versammlung der Hunde von Knossos: kein Erinnerungsbild steht isoliert, jedes Bild löst eine Kette von Reflexionen aus, intellektuelle und poetische Reihen, und diese Ketten und Reihen reichen alle bis in die Gegenwart. Sie zeigen, alle, den Einzelnen in politischen Situationen. Von einer großen Ablösung wissen die Hunde von Knossos zu berichten:

Sie plünderten, uns gaben sie kein Fleisch,

Wir hatten auf ein besseres Leben gehofft
unter neuen Herren.

Überlegte, kalkulierte Sätze, die nicht mit Erinnerungsdunkel laborieren; Erinnerung ist Aufklärung.

Walter Höllerer, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969

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