Miodrag Pavlović, Peter Urban: Preis für Europäische Poesie 2003

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Miodrag Pavlović, Peter Urban: Preis für Europäische Poesie 2003

Pavlović, Urban-Preis für Europäische Poesie 2003

EPITAPH DES SLAVISCHEN URDICHTERS

Wegen unserer alten Lieder
nannten sie mich in diesem neuen Glauben
Ketzer und Feind.
Die alten Gesänge rissen sie aus wie Unkraut
als stünde ihre Kirche davon fester,
und mich begannen sie zu hassen!

Ich endete im Elend,
bei Dunkelheit beerdigt,
als Zauberer träumen sie mich,
ich bin nicht auferstanden aus dem Grabe!

Auch jetzt da sie mich wecken stehe ich nicht auf −
jüngstes Gericht, was ist das? –
sie schreien mir in die zernagten Ohren:
Heide, steht auf und nimm deinen Körper!
Wo soll ich ihn finden, frage ich,
ist es etwa leicht, sich des Körperbaus zu erinnern
in dem Getümmel das die Grotte des Schädels zermalmt.
Legt eure Posaunen weg Engel,
geht nicht mit Sporen über mein Grab,
himmlische Krieger!

Ich bleibe, wo ich bin
in der Erde meiner Sprache,
ich will nicht gerichtet werden auf euern Konzilen,
auch nicht, daß ihr mich unter den Himmel werft
auf den kalten Rost der Ewigkeit.

Sollen andere diesem Gott auf die Wahrheit gehen,
mir ist meine Höhle gut genug,
die Erde ist wie ein Vlies
und die Knochen befruchten sich beim heimlichen Singen.

 

 

 

Begründung der Jury

Miodrag Pavlović und sein Übersetzer Peter Urban erhalten im Jahr 2003 den Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie.
In dem ein halbes Jahrhundert umspannenden, durch eine Vielfalt lyrischer Formen und poetischer Ansätze schreitenden Werk von Miodrag Pavlović, dem großen alten Mann der serbischen Gegenwartslyrik, ist das vielschichtige Verhältnis von Individuum und Geschichte eine Konstante. In Versen von trockener Musikalität geht Pavlović, geprägt von den tragischen Konflikten der slavischen Geschichte, illusionslos mit historischen und legendären Personen um, prüft ironisch Stoffe aus der Antike, dem Mittelalter und der Gegenwart und nutzt sie zur Formulierung aktueller Erfahrungen.
Sein großer Kollege Vasko Popa hat dies so auf den Punkt gebracht: „Der Mündung des Schicksals entgegengehend, kommt Miodrag Pavlović, geführt von seinem klugen und strengen Vers, immer wieder an dessen Quelle selbst.“
Seine Poesie mit ihrer Konzeption von Mythos und Geschichte als Prüfstein dichterischen Sprechens leistet einen bedeutenden Beitrag zur modernen europäischen Dichtung.
Peter Urban, bekannt und gepriesen für seine Übersetzungen russischer Autoren – von Alekandr Puškin und Anton Čechov über Velimir Chlebnikov bis hin zu Daniil Charms – hat sich seit vielen Jahren für die Durchsetzung des Werks von Miodrag Pavlović im deutschsprachigen Raum eingesetzt. In seiner Übertragung erschien bereits 1968 eine erste Auswahl.
Mit dem nun veröffentlichten Sammelband Einzug in Cremona (2002) liegt ein eindrucksvolles Kondensat aus fünfzig Jahren lyrischen Schaffens vor, das Peter Urban mit untrüglichem Sinn für Sprachgestus, Rhythmus und Klangfarbe des Originals einfühlsam in die deutsche Sprache gebracht hat.

Renate Birkenhauer, Michael Braun, Harald Hartung, Joachim Sartorius, Norbert Wehr

Rückkehr zum Gedicht

Die Frage, ob das lyrische Gedicht eine Zukunft habe und wenn, welche, ist weder besonders neu noch besonders originell. Sie ist so alt wie das erste Gedicht, und sie ist seither oft und auf äußerst verschiedene Weise beantwortet worden, meist unter dem Hinweis darauf, daß keine Antwort endgültig, sondern jede nur ein Versuch sei zu erklären, warum der jeweils Antwortende Gedichte geschrieben hat und warum er seine Gedichte so und nicht anders geschrieben hat. Ob das Gedicht eine Zukunft habe, ist im Grunde solange eine rhetorische Frage, wie Gedichte geschrieben werden. Das Gedicht ist, in anderen Worten, der beste Beweis gegen die Frage nach seiner Zukunft. Und das Gedicht selbst ist auch die beste Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit seiner Zukunft. Davon nicht zu isolieren ist die Frage nach dem gesellschaftlichen und zeitlichen Kontext, in dem Gedichte entstehen.
Vor allem die Dichter kleinerer Literatursprachen, Dichter also, denen die Sprachbarriere in ganz anderem Maße gegenwärtig ist als etwa uns, mißtrauen dem „Weltstaat der modernen Poesie“; ihr Verhältnis zum Moment des Nationalen ist zwangsläufig anders als etwa das unsere; auch ihr Verhältnis zum derzeit Modernen in der Literatur und zum Begriff der Zeit. Miodrag Pavlović hat diese Fragen klar, wenn auch, hierzulande, vielleicht nicht ganz unmißverständlich beantwortet. Für ihn bedeutet Gedichte-Schreiben die Rückkehr zum Gedicht: den, wie er selbst einmal sagte, ständigen Dialog mit dem Gedicht und seinen eigenen spezifischen Grunderfahrungen.

Das Beste, was der Dichter tun kann, ist, sich seine Gedichte nicht zu entfremden, sie nicht als vollendet zu betrachten, nicht zu denken, er werde im zweiten Gedicht sagen, was er im ersten nicht gesagt hat, denn dann wird er weder im ersten noch im folgenden genug sagen. So ist es nicht nur mit dem, was er mitteilt, sondern auch mit den Formen, die zu schaffen er berufen ist. Er kann viele Formen wiederholen, aber er kann eine jede neue Aufbietung der Formen in nur sehr begrenzter Zahl von Varianten geben. Er muß zu seiner Form zurückkehren wie zu seinen Gedanken.

Diese Einstellung verdankt sich nicht nur der Einsicht, „daß auch reiche dichterische Persönlichkeiten in ihrem Leben nur einige Dinge zu sagen haben, auch wenn sie viele Bände Lyrik schreiben“. Die Rückkehr zum Gedicht schließt das zufällig Private mehr und mehr aus und bezieht, die Übertragung der dichterischen Rede in einen öffentlichen, universaleren Bereich anstrebend, die Rückkehr zu den Traditionen der eigenen Literatur mit ein. Erinnerung ist eines der Schlüsselworte bei Pavlović. Seine Gedichte durchforschen die Erinnerung und klären sie auf. In der Gegenwart dieser Gedichte ist die Vergangenheit ein wesentlicher Bestandteil dessen, was Pavlović formuliert: Erfahrung. Und da schließlich jedes Gedicht irgendeine Erfahrung vermittelt, ist zu präzisieren: Pavlovićs Erfahrung ist nicht die eines weltvergessenen esoterischen Lyrikers, sondern die eines historischen Subjekts, das sich seiner historischen Situation wie auch der Zeit, in der es lebt, voll bewußt ist und, ohne sich Illusionen hinzugeben, darauf reagiert.

VERSAMMLUNG DER HUNDE AUF KNOSSOS

Vor den Mauern kläfften und jaulten
Menschen wie tollgewordene Hunde,
und wir waren mit der Stimme Hehler
derer, die eben gelandet waren.
In dem Getümmel war kein Gemach mehr verschlossen,
wir balgten uns auf königlichen Betten,
leckten an den Hörnern der Stiere,
die Schlangen hingen von den Riegeln.
Wir hatten nichts zu verlieren.
Ungeduldig warteten wir erobert zu werden,
sonst hätten unsre Herren uns verspeist.
Als dann die Dorer die Tore einrannten,
sahen sie einen von uns auf dem Thron
und rissen vor Staunen das Maul auf.
Sein Fang war wohl etwas zu lang,
und dieser Schatten fiel ihnen aufs Gesicht.

Sie plünderten, aber uns gaben sie kein Fleisch,
und Freiheiten hatten wir große gefordert,
bekamen aber bloß die Leiche des Königs, zur Verhöhnung.
Ihn fressen?
Na was denn,
wir haben schließlich auch auf seinem Thron gesessen!
Sein Fleisch war zäh wie ein Ledergurt,
die Leber knotig und klein.
Später kamen sie mit Ketten zu uns
und warfen uns raus, den Mond anbellen,
aber die Schlangen sind noch schlechter weggekommen:
die brieten sie am Spieß.
Wir hatten auf ein besseres Leben gehofft
unter neuen Herren.

Die „Versammlung der Hunde auf Knossos“, ein klassisches Rollengedicht, das die Möglichkeiten der „lyrischen“ Parabel besonders überzeugend durchspielt, erzählt eine alte Geschichte neu, aus der Perspektive und mit den Worten anonymer, sich unterdrückt fühlender Individuen. Die Eroberung von Knossos durch die Dorer, bereits Geschichte, ist für die Hunde ein Anlaß zur Reflexion. Sie analysieren historisches Geschehen, das nicht das erhoffte „bessere Leben“, sondern, im Vergleich zum früheren, nur dessen Verschlimmerung erbracht hat. Der lakonische Schluß der Überlegung, der durchaus für sich allein stehen könnte, hebt im Kontext der „Versammlung“ jedoch – als kurz und sarkastisch formulierte Quintessenz – das eigentliche Ereignis über sich selbst hinaus und verleiht ihm den Charakter eines Gleichnisses, das, gerade im Hinblick auf jene Quintessenz, auf eine ganze Reihe ähnlicher Vorgänge anwendbar, also von weiterer, umfassenderer Bedeutung ist.
Zeitbezüge schafft dieser Kollektiv-Monolog jedoch nicht nur durch diese Schluß-Sentenz. Zeitbezüge realisiert er auch sprachlich, beispielsweise durch die bewußte Verwendung politisch relevanter Klischees wie: „Wir hatten nichts zu verlieren“, das sich ja, wie späterhin deutlich wird, als eine Halbwahrheit erweist. Wie überhaupt die innere Logik des Monologs, nicht nur seines Schlusses, sehr wichtig scheint. Für sich genommen – und das ist das Raffinierte an diesem Text – mag die rhetorisch-resignierte Behauptung stimmen, Hoffnung auf ein besseres Leben unter neuen Herren sei Unsinn. Im Zusammenhang jedoch wird sie schief, denn man darf ja nicht vergessen, wer da zu dieser Erkenntnis gekommen ist.
Der Monolog der Hunde erzählt ja nicht nur das Fiasko einer versuchten Revolution, sondern er erzählt den ganzen Fall aus einer ganz bestimmten Perspektive, nämlich der des Hundes: er enthüllt durch das Erzählen und die Akzente, die die Erzählung setzt, das kollektive Bewußtsein der Sprechenden, er verrät ihre Motive für die Revolte (die sich reduzieren lassen auf den Selbsterhaltungstrieb), ihre Wünsche (an erster Stelle Fleisch, an zweiter erst große Freiheiten), und schließlich disqualifiziert er sie vollends durch ihren erbärmlichen Trost, die Schlangen seien immerhin noch schlechter weggekommen als sie selbst. Vor allem dadurch, daß es Hunde sind, die sich ein Leben ohne Herren erhoffen, rückt die Schlußsequenz das Gedicht in den Bereich der Groteske.
Die Technik des Rollengedichtes kann nicht als besonders neu gelten, ebensowenig wie der Parabel. Doch Pavlović geht es auch weniger um Originalität als vielmehr um Verläßlichkeit und Beständigkeit seines Gedankens. Der Lyriker Vasko Popa umschreibt Pavlovićs Gedichte und ihre Intention mit diesem Bild: „In diesen Gedichten verbrennen und vergehen die drei Zeiten, um wenigstens einen Funken an Unvergänglichem herauszuschlagen.“ Auf seiner Suche nach einem weniger ephemeren, zeitgebundenen Rahmen zur Formulierung seiner Erfahrung – die immer auch kollektive Erfahrung darstellt – stieß Miodrag Pavlović auf den Mythos, der, ehemalige dichterische Intensität enthaItend, durch neue imaginative Frische und neue Bedeutungen bereichert und umfunktioniert werden kann.
„War der Gebrauch mythischer Bilder im vergangenen Jahrhundert vorwiegend dekorativen Charakters, so ist der Mythos heute einer Reihe von Dichtern Wegweiser zur tieferen Durchdringung, zu Vorstößen zum Wesen dichterischer Erfahrung“, erklärt Miodrag Pavlović heute, „da sich der Dichter vor der Allmacht einer lyrisch-emotionalen dichterischen Formel, die vom Ende der Romantik über den Symbolismus bis hin zu den Orgien lyrischer Willkür im Surrealismus dominierte, schützen will und tiefere Gesetze des dichterischen Denkens sucht“; „Mythos bedeutet den zeitgenössischen Versuch, diejenigen dichterischen Formen zu finden, die der damaligen Form des Epos‘ entsprechen könnten. Er ist die Antwort auf den Imperativ, den unsere Zeit an den Dichter richtet, nämlich: sich mit der Geschichte als dem Inhalt seiner Dichtung zu konfrontieren. Das bedeutet nicht das Ende für die Formen lyrischen Dichtens, aber auch sie verändern sich oder hören auf, typisch zu sein für die dichterischen Intentionen unserer Epoche.“
Dichtung besteht damit freilich nicht in der Nacherzählung mythologischer Lesebuchstories. Der Mythos dient nur als Rahmen, der, je mehr sich der Gedanke in ihm entwickelt, transzendiert wird; Mythos als – hoffentlich – dauerhaftere, sozusagen historisch gesicherte Möglichkeit, zu sagen, was ist. Dabei schließen sich Mythos und Entmythologisierung nicht aus. Pavlovićs Gedichte lassen sich auf die Formel bringen: „Entmythologisierung des Mythos durch aktuelle Erfahrung“:

Pavlovićs Gedichte sind Variationen über das Thema: menschliches Individuum und Geschichte. Immer befindet sich der durch Pavlović Sprechende im Gegensatz zum angedeuteten oder klar umrissenen historischen Geschehen. Es sind Menschen, die sich von der Geschichte überrollt fühlen und die, unzufrieden mit der „offiziellen Version“ des Geschehens, tot bereits oder den Tod vor Augen, das Geschehen, das mächtiger war als sie selbst, reflektieren, es differenzieren und sagen, „wie es war“, was sich eigentlich ereignet hat, zu welchem Zweck und zu welchem Ende. Doch Pavlovićs „Helden“ – gestürzte Götter, gescheiterte Fürsten, verfolgte Sektierer, Flüchtlinge und Pilger – sie alle verschweigen auch nicht, warum sie Opfer wurden; ihre Reflexion ist manchmal naive, immer aber erklärende Selbstreflexion; die Logik ihrer Monologe verrät die Gründe ihrer Niederlage und fordert den Widerspruch heraus.
Die Poetik des entmythologisierten Mythos widerspricht der festgestellten Kontinuität in Pavlovićs Lyrik im Grunde also nicht. Im Gegenteil: Vielleicht liegt hier sogar die Erklärung dafür, daß es Pavlović als einem modernen Lyriker „Gedichte aber sind schwer geworden“ – gelungen ist, mit durchaus „konservativen“ Mitteln noch einmal einen eigenen, unverwechselbaren Ton zu finden. Der Symbiose, die Pavlovićs eigene Imagination mit den Bildern der nationalen Überlieferung eingegangen ist, verdanken seine Gedichte nicht nur eine ganze Reihe „neuer“: für Pavlović neuer, umfunktionierter Bilder, sondern vor allem auch eine Vertiefung der eigenen und eine Bereicherung der Sprache.
Pavlovićs Gedicht wird durch die Begegnung mit der alten slavischen Mythologie, dem epischen Heldenlied und seiner Symbolik fester in der nationalen Literatur verankert; es wird deswegen jedoch nicht zum hermetischen Kunstprodukt, dem der nicht-serbische Leser in Unkenntnis der nationalen Symbolik nicht mehr folgen könnte. Pavlovićs Gedicht gewinnt nur eine Dimension mehr, für den serbischen Leser; doch es bleibt gleichzeitig, im Kontext des bisherigen Gesamtwerks, offen und aus ihm heraus zu erschließen.
Ein weiteres, ebenfalls nicht rein formales Charakteristikum der Lyrik Pavlovićs ist, daß die Gedichte nicht mehr wie vereinzelte Gelegenheitsprodukte auftreten, sondern – den einzelnen Liedern des serbischen Epos‘ analog – zu Zyklen gruppiert werden, die gleichsam Modelle der Welt zu einer bestimmten Zeit darstellen. Es sind fragmentarische Modelle, doch die Fragmente sind sehr bewußt gewählt: sie verraten schon allein durch ihre Auswahl die Absicht des Dichters, nämlich zu zeigen und zu bezeugen, bescheiden, aber mit Bestimmtheit:

wie sich der Mensch in einer geschichtlichen Situation zurechtgefunden und gefühlt hat, was er wollte und was er nicht wollte. Das ist wichtig für die Kontinuität des Menschseins. Ich glaube, daß die Kunst den Menschen reicher und dadurch bewußter macht. Er kann dadurch Versuchungen auch im sozialen Bereich vielleicht besser widerstehen. Die Kunst kann helfen, daß das Schicksal des Menschen besser wird, als es ist, oder wenigstens nicht schlimmer.

Peter Urban, Nachwortauszug aus Miodrag Pavlović: Gedichte, Suhrkamp Verlag, 1968

Poesie als Geschichtslehre

Danilo Kiš hat lebenslänglich damit gehadert, daß ein jugoslawischer – oder allgemeiner ein ostmitteleuropäischer Schriftsteller nicht umhinkönne, zum homo politicus zu werden; die Geschichte zwinge ihn dazu. Liest man das poetische Œuvre des wohl bedeutendsten serbischen Gegenwartslyrikers, Miodrag Pavlović, wird man die Omnipräsenz dieser Geschichte bestätigt finden: Sie ist dominantes Thema von Anfang an.

Pavlović, 1928 in Novi Sad geboren, erlebte als Jugendlicher die Bombardierung Belgrads durch die Deutschen. Seine Erinnerungen an die Jahre 1941 bis 1944, Usurpatoren des Himmels, wird er im März 2000, genau ein Jahr nach Beginn der amerikanischen Luftangriffe, erscheinen lassen. Kein Zufall. Nach dem Krieg studiert Pavlović Medizin und wirkt mehrere Jahre lang als Arzt. Mit dem Erfolg seiner ersten Lyrikbände (87 Gedichte, 1952; Säule des Gedächtnisses, 1953; Oktaven, 1957) wechselt er zum Beruf des Dramaturgen, dann des Verlagslektors. Seine literarische Produktion umfaßt – neben Gedichten – auch Essays (über Kunst und Rituale, über Anthropologie und Philosophie) sowie Theaterstücke. Im Zentrum aber steht das lyrische Wort: Kurz- und Langgedichte, lapidare und visionäre Verse (etwa der „Canto Apokalypse“, 1972, über die jugoslawische Tragödie), Gereimtes und Ungereimtes, Narratives und Gleichnishaftes – insgesamt über dreißig Bände mit vielsagenden Titeln wie Opfergang, Helle und dunkle Feiertage, Geschichtslehre.
Ein repräsentativer Auswahlband liegt unter dem Titel Einzug in Cremona nun auch auf Deutsch vor, betreut von Peter Urban, der bereits 1968 in der Edition Suhrkamp mehrere Dutzend Gedichte des Serben ediert und übertragen hatte. Einiges wurde wieder aufgegriffen – dabei lassen sich die übersetzerischen Revisionen studieren, sehr aufschlußreich. Pavlović beherrscht viele Tonfälle: den lakonischen und den psalmodierenden, den erzählerischen und den elegischen, den ironischen und den reflexiven. Sein kurzes Sinngedicht „Auf den Tod einer Henne“ kontrastiert er mit dem weit ausholenden Gestus des Poems „Verteidigung unserer Stadt“. Doch bei näherer Betrachtung ergeben sich motivische Verschränkungen: Gestorben wird hier wie dort.
Tod und Krieg sind Leitmotive von Pavlovićs Schaffen, desgleichen die Geschichte – allen voran die leidvolle serbische −, ferner antike Mythen und Helden, die Zeit und die menschlichen Rituale. Keine bekenntnishafte Ich-Lyrik wird hier zelebriert, sondern ein weiter anthropologisch-historischer Raum entfaltet, in dessen Faltungen und Schichtungen das Einzelergebnis eine alt-neue Bedeutung erhält. Wo die Optik bis ins Neolithikum reicht, ist der Blick sensibilisiert für Zusammenhänge und Kettenglieder (so der Titel eines Gedichtbandes von 1977); er assoziiert das Nächste mit dem Fernsten, die „Ahnung des Endes“ mit der „Milch des Ursprungs“:
Rück- und Vorschau, Mythos und Vision im Verein: Miodrag Pavlović – die Dichter-Imago des Forschers und Sehers verkörpernd – geht es um die großen Menschheitsfragen. Und dies schon früh. 1952 entsteht das wegweisende Gedicht „Fragen“:

Ein Fremder werden
oder
nicht weggehn

Den Kopf abwenden
oder
erblinden

Den Mund halten
oder
auf den Rücken fallen

Nicht mehr lang ticken die Uhren
reiche die Hand

Sterben
oder
nicht geboren werden

Neu geboren werden.

Es sind Grundsatzfragen (vor dem Hintergrund politischer Repression), die unbeantwortet bleiben – bis auf das positive Schlußstatement: „Neu geboren werden.“
Hoffnung auf Wandel kennzeichnet Pavlovićs geschichtsträchtige Verse, doch wird sie ohne moralisierende Geste vorgetragen. Ob Rollengedicht oder Parabel, ob Klagegesang oder „spätes Gebet“, nirgends macht sich Eindeutigkeit breit. Universalität heißt auch: den Dingen Atem gewähren im Miteinander der Zeiten. Diesbezüglich ist Pavlović, der mit seinem Landsmann Vasko Popa manche surrealistische Bilder und die Hinwendung zur serbischen Historie teilt, freier als der Pole Zbigniew Herbert oder der formstrenge Joseph Brodsky, mit denen er gerne verglichen wird. Pavlovićs vielfältige Lyrik ist nicht zuletzt darum bedeutend, weil sie sich nicht vereinnahmen läßt. Politische Lesbarkeit gibt sich verschIüsselt, und das Spezifische verweist stets auf ein Allgemeines. Auf seiner Suche nach dem Sakralen – ein anthropologischer Impetus – evoziert Pavlović nicht nur die antike Götterwelt und die mittelalterlichen serbischen Klöster, er beschwört Patmos, die großen französischen Kathedralen und den ersten Steintempel der Menschheitsgeschichte: einen megalithischen Komplex auf Malta. Dem hektischen Zeitgeistdenken steht damit eine Gedächtniskultur entgegen, die wenn nicht sinnstiftend, so zumindest tröstlich erscheint. Indem sie auch die Begriffe Anfang und Ende, Geburt und Tod relativiert.

Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 21.1.2003

„Grundgesetz der Schatten“

− Laudatio von IIma Rakusa auf Miodrag Pavlović und Peter Urban. −

Früh übt sich, wer Schriftsteller werden will. Mit dreizehn Jahren, im April 1941, notiert Miodrag Pavlović in sein Heft: „Nach der Tragödie Belgrads am Vormittag des 6. April 1941 haben riesige Menschenmassen, die die Schrecken des Bombardements nicht mehr ertragen konnten, ihre Wohnungen verlassen und sind in die Peripherie geflohen, in die benachbarten serbischen Dörfer, Richtung Südwesten. In diesem Rudel der Obdachlosen waren auch ich und meine Mutter. Es war schrecklich. Wir kommen nur langsam voran, fliehen, hinter uns qualmt Belgrad, Rauch steigt auf, schwarz, und der Wind treibt ihn hierher, auf unsere Seite. Und diese riesige schwarze Wolke droht uns wie ein schwarzes Verhängnis, je wieder zurückzukehren, und treibt uns an, schneller zu fliehen, und versucht uns anscheinend einzuholen. Wir gehen, entkräftet.“
Die Flucht gelingt, und mit ihr das Überleben. Doch der Krieg ist noch lange nicht zu Ende. Zurück in Belgrad erlebt der junge Miodrag die Belagerung der Stadt durch die Deutschen und im April 1944 die Bombardements der Alliierten. Diesmal rettet ihn nur der Zufall vor dem Tod. Er notiert: „In der Drinčićeva wurde vier Tage danach ein Keller freigelegt, und man fand in ihm die Leichen von Menschen, die als Verschüttete gelebt hatten und in gegenseitiger Umarmung gestorben waren. – Der Besitzer eines Hauses kletterte auf das Hausdach, weil er dachte, es werde nicht bombardiert. Die Bombe fiel genau in dem Augenblick, als er hinaufgeklettert war und genau sehen konnte, wie der eine seiner Söhne tot auf die Strasse geschleudert wurde, der andere gegen die Elektroleitung. – Man sah einen Popen einen Handwagen ziehen und wunderte sich; später erfuhr man, dass er seinen getöteten Sohn auf den Friedhof gebracht hatte. – Man fand ein lebendes Kind, weinend hinter einem Schrank in einem zerstörten Haus. – Drei halbwüchsige Kinder liefen ins Haus gegenüber, das ihnen sicherer schien, und kamen im Keller verschüttet um, während ihr eigenes Haus stehenblieb. – (…) Verschüttete im Keller. Tagelang haben sie sich von Kohl ernährt und sind geistesgestört. Als man sie ausgrub, lachten sie. – Eine Frau war mit der Hausmeisterin zerstritten und wollte nicht mit in den Keller, sondern blieb auf dem Hof, hinter einem Baum. Die Bombe fiel in den Keller, alle kamen um. Der Frau riss die Bombe die Kleider vom Leib. Sie blieb am Leben, nackt, aber verlor den Verstand.“
Sehr viel später hat Miodrag Pavlović diese erschütternd genauen Aufzeichnungen von anno dazumal in seinen Erinnerungstext Usurpatoren des Himmels aufgenommen, der seinerseits präzis ein Jahr nach Beginn der NATO-Luftangriffe auf Belgrad, im März 2000, erschien. Eine symptomatische Koinzidenz. Nicht nur eine Biographie befindet sich solchermassen im Zangengriff des Kriegs, auch das Schreiben arbeitet sich an dieser Heimsuchung ab. An ihren Rätseln und Ruinen, an ihrer Sinnlosigkeit und ihrem Anti-Triumph.

Nach dem Krieg studierte Pavlović zunächst Medizin und praktizierte einige Jahre als Arzt. Dabei erlernte er den nüchternen Blick auf den Tod und den umfassenden der Wissenschaft vom Menschen. Sein anthropologisches Interesse leitete ihn fortan bei allen Unternehmungen: bei der essayistischen Erforschung von Opfer- und Begräbnisritualen, bei seinen Studien zu Geschichte, Mythos und Kunst – und nicht zuletzt bei seiner lyrischen Recherche, die sich nie im Subjektiv-Intimen verliert, sondern stets einen Horizont, einen Kontext eröffnet.
Um es vorwegzunehmen: Pavlović ist einer der grossen Geschichtsdichter unserer Zeit. Ob er den Bogen bis zu den alten Griechen oder ins serbische Mittelalter, nach Skythien, Chartres oder ins Belgrad des Jahres 1941 spannt – immer rührt er an existenzielle (anthropologische) Konstanten, immer gilt der Fokus einem Einzelfall, der sich zum Zusammenhang weitet. Keine Frage, dass sich solche Kunst nicht nur vielfältiger Disposition, sondern ebenso vielfältiger Erfahrung verdankt. Heutzutage ist sie zur Seltenheit geworden.
Seit 1952 hat Miodrag Pavlović rund dreissig Gedichtbände, ferner Dramen, Essays, Erinnerungsprosa und Anthologien veröffentlicht. Er ist ein poeta doctus alten Stils, doch kein Bewohner des Elfenbeinturms. Seine kosmopolitische Neugier hat ihn zu vielen Reisen – bis auf die ferne Osterinsel – gelockt. Zugleich aber stellte er in Serbien seine moralische Verantwortung als Schriftsteller mehrfach unter Beweis. Während des unseligen Balkankriegs erhob er seine Stimme gegen kollektiven Wahn und Zerstörung, 1992 gab er, mit deutlichem Bezug auf die Gegenwart, seine „Gedichte über Kindheit und Kriege“ heraus. Der luzide Blick enthüllt Parallelen, ohne sich modisch anzubiedern.
Anbiederung war und ist Pavlović Sache nicht. Nie gehörte der Dichter einer lyrischen Schule oder Gruppe an. Vom Surrealismus eines Oskar Davičo oder Vasko Popa hielt er sich fern, der Stoff diktierte ihm Ausdruck und Form. Und mag man noch so viele Vergleiche bemühen (etwa mit dem Polen Zbigniew Herbert, wie es Peter Handke tut), Pavlović bleibt der, der er ist: kein stolzer Einzelgänger, wohl aber ein ehrlicher Exploiteur seiner einzigartigen Möglichkeiten.

Hören wir uns die Titel seiner wichtigsten Gedichtbände an: Säule des Gedächtnisses (1953). Milch des Ursprungs (1962), Grosses Skythenland (1969), Opfergang (1971), Helle und dunkle Feiertage (1971), Kettenglieder (1977), Gesänge auf den Wirbel (1977), Herrliches Wunder (1982), Altslavisches Buch (1989), Einzug in Cremona (1989), Gedichte über Kindheit und Kriege (1992), Zwischenstufe (1994), Lehre von der Seele (1999). Die Titel sind vielsagend und enthüllen die Topoi von Pavlović Imagination: Ursprung und Gedächtnis, Opfer und Wunder, Anatomie und Seele, Kindheit und Krieg, Buch und Geschichte. Ein grosses, ein gewichtiges Themenrepertoire, dem nicht wenig Pathos anhaftet.
Pavlović wagt sich an das Erhabene, weil er Nähe und Distanz auszutarieren weiss – ebenso wie den hohen Ton und das lässig Hingesprochene. Paradox, Ironie und Lakonie begleiten ihn auf seiner Suche nach Zusammenhängen, einer Suche, die das Detail nie aus den Augen verliert und das Fragen nie aufgibt. Fragen heisst denn auch ein frühes Gedicht. Es lautet so:

Ein Fremder werden
oder
nicht weggehn

Den Kopf abwenden
oder
erblinden

Den Mund halten
oder
auf den Rücken fallen

Nicht mehr lang ticken die Uhren
reiche die Hand

Sterben
oder
nicht geboren werden

Neu geboren werden.

Die Rede ist – mit spröder Lakonie – von einer pochenden Entscheidung vor dräuendem politischem Hintergrund. Überraschend der Schluss, der die Kette der Antinomien aufbricht. Auf die Alternative „sterben oder nicht geboren werden“ antwortet der Dichter mit einem klaren Votum für die Wiedergeburt. So wird das binäre Schema gesprengt – zugunsten eines hoffnungsvollen Dritten.
Bleiben wir kurz bei der Hoffnung. Pavlović nimmt sie nicht leichtfertig in den Mund; er, dem die frühen Kriegserfahrungen tief in den Knochen sitzen, weiss, wovon er spricht. 1953 verfasst er ein mehrteiliges Gedicht über Belgrad, hinter dessen Titel – „Verteidigung unserer Stadt“ – eine Liebeserklärung steckt. Träumerisch fängt es an:

Schau mich an. Der Fluss fliesst nicht.
Noch immer sind wir allein unter der Glocke der Höhe
(Niemals allein).
Fenster sind dort, Fenster hinter uns,
zerbrochen, geöffnet, eingeschlagen
sind sie so kurzsichtig wie sie winzig sind
sind sie etwa so gleichgültig wie sie fern sind
wenn der Kopf sich an den Bug des Kopfes lehnt,
schweigen sie denn nur wenn die Neugier ihren Tag verliert?

Viele Strophen und schmerzliche Reminiszenzen weiter spricht der Dichter einen schützenden Gegenzauber aus:

… am Himmel sollen keine Wölfe erscheinen
mit aufgerissenen Sternenzacken
mit entfesseltem Brüllen das Köpfe zertrümmert
kein einziger von ihnen soll
das gespitzte Relief des Schorfs der Ziegel berühren
Verstecken sollen sich die Maulwürfe in ihren Gängen
die Stahlwürmer sollen heute nacht
nicht suchen nach frischem Fleisch unter der Höhle des Deckbetts
kein Heulen des Aufpralls
(…) soll das Recht dieses Dunkels bestreiten
über dem Haar das ein ruhiges Laken begehrt.

Und nun folgt eine der anrührendsten Friedensbeschwörungen:

Wenn Frieden das ist was nicht Krieg ist
wenn Frieden das ist was
kein menschlicher Kopf ist in einer angeschlagenen Glocke
keine Kanalisation des Bluts auf dem Pflaster der Erinnerung
keine Kinderfinger in Strassenbahnschienen
wenn zumindest Krieg nur das ist
soll Frieden sein von einer Strassenbahnhaltestelle zur andern
vom ersten Blick bis zum letzten Stern
vom ersten Bissen bis zum Nachdenken
von einer Strassenecke bis zur Hochzeit, bis zu Kinderspiel
und der Rückkehr mit der Eisenbahn um Mitternacht.
Friede dieser Stadt
kein einziger Laut störe die Stille
dieses Morgens im Unbewussten der Uhr.

Und der Dichter fährt fort:

Ich habe Hoffnung für diese Stadt
ich habe eine grosse Hoffnung
ich habe eine Stadt
ich habe einen Morgen jeden Morgen
aber der Morgen meiner Hoffnung kommt erst.

Man liest diese Zeilen, die vor fünfzig Jahren geschrieben wurden, und glaubt, sie wären von heute. Nicht, dass die Geschichte sich wörtlich wiederholt hätte, aber der Hoffnungsbedarf ist so akut wie damals. Und die Stadt in Pavlovićs luzider Beschwörung so präsent, dass die Zeit aufgehoben scheint.

Nur grosse Dichtung schafft solche zeitenthobene Gegenwärtigkeit, Gültigkeit. Und bestätigt immer aufs neue, dass die Prosodie älter ist als die Politik – wie Joseph Brodsky treffend bemerkte.
Ein politischer Dichter wollte Miodrag Pavlović nie sein. Allzu klar erkannte er den schmalen Grat zwischen Engagement und Propaganda, allzu deutlich stand ihm die Kompliziertheit der Verhältnisse vor Augen, die er keiner Simplifizierung opfern mochte. Pavlovićs frühe Gedichte üben sich in unerbittlicher Genauigkeit, ja Unterscheidungsmanie; nicht umsonst hat ein Kritiker von „Diagrammen der Desintegration“ gesprochen. Später wählt Pavlović die Parabel, die Allegorie, das Rollengedicht, um sich an wunde Themen heranzuschreiben. Er greift in den Fundus antiker Geschichte und Mythenweit, durchquert Ozeane und Zeiten, als wär’s ein Ausflug in die Nachbarschaft. Unzimperlich legt er Odysseus in den Mund, was auf eine diktatorische Gegenwart zugeschnitten scheint:

Beinahe täglich will Kirke
jemanden in ein Schwein verwandeln,
es fallen verschiedene Namen, hör zu:
die Herde wächst, triffst du Freunde auf der Strasse
wie sie grunzen! Sie klagen, strengen Prozesse an
rennen mit dem Kopf gegen den Zaun,
was für Zeiten!
(…) Wir sind für die Gerechtigkeit noch nicht reif (…)
Verstörte Schweine sind wir
unter uns ein unentschlossenes Schiff.

Im narrativen Gewand kommt Pavlovićs Gedankenlyrik zu ihren brisantesten Aussagen. Das Rollengedicht setzt neue, kühne Töne frei, Anklage und Selbstanklage wirken unwirsch, ironisch und stark.

Doch gibt es bei Pavlović auch die Klage, das Gebet, die elegische Reminiszenz, bezeichnenderweise da, wo der Dichter sich der leidvollen serbischen Geschichte zuwendet (Zyklus „Gross-Skythien“, „Neu-Skythien“, 1969, 1970). Es gibt poetologische Gedichte und jene gedämpften „Stimmen aus dem Halbdunkel“, die zu einer furchtsamdefensiven Lebensführung raten:

Das Grundgesetz der Schatten:
halte dich entlang der Mauer, geh leise,
nenne niemanden beim Namen
und hüte dich vor Gebäuden die nachts arbeiten.
Ein Schatten füge keinem Schatten Schaden zu.

Wer unbedingt sprechen will
der ziehe sich noch tiefer ins Dunkel zurück
und spreche dort alles aus,
nur solche Rede rettet sich aus dieser Zeit
und wird zum Symbol.

Subtil enttarnt der Dichter die schillernde Verführungskraft dieses Ratgebers und weist damit auch den Wunsch, zum Symbol zu werden, von sich.
Pavlović, der Skeptiker, der sich die Hoffnung nicht nehmen lassen will. Da tituliert er den Menschen als „Propheten und Lotterbuben“, räumt ihm aber trotz allem noch Chancen ein. Da fragt er lakonisch, wer es wagt, „die Apokalypse in seine Hände zu nehmen“, und besiegelt die Frage mit einem Gedicht. Da entwirft er sarkastisch ein zweites Neolithikum, lässt die Beteiligten aber lachen. Da schildert er das Jüngste Gericht, doch „Kain umarmt Abel und dem Opfer wird der Name seines Mörders lieb.“ Allerdings verweigert er auch nicht den schwarzen Humor, wie in diesem kurzen Gedicht mit dem Titel „Die letzte Stunde“:

Alles bleibt stehen
umsonst zieht man die Uhren auf
am Markt
niemand geht aus
nichts kommt heraus
nirgends ein Zeichen
ein Handwerker kommt vorbei
und fragt
was repariert werden soll
unten an der Mündung
berichten die Kapitäne
die Sonne
verkehre nicht mehr im Hafen
auch die Boote
ziehen sich aus der Affaire
wer bleibt bei uns?
nur die Photographen.

Wir nicken zustimmend über diese trefflich-düstere Diagnose. Um gleichzeitig festzustellen, dass der Dichter ein grundsätzlich anderes Geschäft als die Medienleute versieht. Nicht das eines sensationslüsternen, realitätsblinden Protokollanten, sondern das eines – verzeihen Sie den altmodischen Ausdruck – Sehers. Pavlović sieht, weil er schaut, von innen schaut, und dieses Sehen beschränkt sich nicht auf eine Sicht, es ist zugleich Vision.

Mit zu den schönsten Texten von Pavlović gehören meines Erachtens jene, wo der Gedankenlyriker und der Visionär zusammenfinden: es handelt sich um die Gleichnisse des Bandes Geschichtslehre (1995). Diese rhythmisierten Prosagedichte vereinen Pavlovićs anthropologische, historische und mythologische Neigungen, sie sind ebenso krud wie bildhaft, ebenso ungnädig wie weise, ebenso schlicht wie poetisch. Hier ein Beispiel, „Die andern und wir“:

Sie malen ihren Gott, dem aus dem Bauch ein Baum wächst. Ihr Gott ist gelb, obwohl er mit Blut ernährt wird. In ihrem Körper reihen sich Würfel aneinander. Niemand hat sie aus der Nähe gesehen. In ihren scharfen Augen sind wir die weiche Herde. Geschöpfe, die sich mit ihren Göttern herumschlagen. Ihnen ist das Gesetz verborgen. Sie ziehen keine Linie zwischen Belohnung und Strafe. Wir lachen gern. Ihnen dagegen ist nichts heilig. Freiheit ist dasselbe wie Verfluchtsein. Sind sie überhaupt Menschen? Auch wir sind nicht das, wonach wir aussehen.

Jede Miniatur fasst ein Stück Welt und die Paradoxien der Schöpfung. Sie imaginiert und sie analysiert. Der Dichter gebärdet sich dabei als Demiurg, wenn auch diszipliniert-desillusioniert durch Erfahrung, Wissen, Zweifel. Doch man ahnt es: heimlich baut er an neuen Mythen, an einem revidierten Menschenbild. Diese poetische Lizenz ist ihm nicht zu verargen.
Pavlovićs jüngster, vor kurzem auf Deutsch erschienener Gedichtzyklus heisst „Cosmologia profanata“, profanierte Kosmologie, und ist nichts weniger als ein moderner Schöpfungsmythos. Ein wunderlicher und witziger übrigens, in dem Sterne in Eiern sitzen, die vier Elemente, Fische und Vögel machen ihre Aufwartung, der Krebs mit seinem Krebsgang wird als Schlüsselfigur der Geschichte gepriesen, Gänse vor die Deichsel der Sonne laufen und „der Schöpfer in der eigenen Wonne strandet“. Es ist von der Zeit, von der Null und von Buddhas Predigt die Rede und von der Welt, die „aufgehört hat sich zu wandeln“. In kurzen, gereimten Versen, die mitunter an Kinderverse erinnern, entwirft Pavlović eine heiter-absurde Schöpfungsparodie, die es jedoch nicht an Tiefsinn und bitteren Krumen fehlen lässt:

Zerschlagt kein Ei
auch wenn ihr hungrig seid
auch wenn es sei
die einzige Sonne
im grauen Einerlei

Von hunderttausend Eiern
ist eins gefüllt
mit euch

das andere
mit explosivem Brei.

Oder über den Menschen:

Aus vor ihm
geschaffenen Formen
schafft der Mensch die Formen
noch einmal

Er ist
ein zweitrangiger Schöpfer
von Geschöpfen

Seine Reihen
reichen
für die Schuld
Schuldiger

Seine Künste sind der pure Schein.

Der Dichter-Demiurg stellt damit auch sich selbst ein schlechtes Zeugnis aus – mit ironischer Bescheidenheit. Doch sein Opus straft ihn Lügen.

Miodrag Pavlović hat unbeirrt an seinem poetischen work in progress gearbeitet, nach der Devise: „Das Beste, was der Dichtertun kann, ist, sich seine Gedichte nicht zu entfremden, sie nicht als vollendet zu betrachten, nicht zu denken, er werde im zweiten Gedicht sagen, was er im ersten nicht gesagt hat, denn dann wird er weder im ersten noch im folgenden genug sagen. So ist es nicht nur mit dem, was er mitteilt, sondern auch mit den Formen, die zu schaffen er berufen ist. Er kann viele Formen wiederholen, aber er kann eine jede neue Aufbietung der Formen in nur sehr begrenzter Zahl von Varianten geben. Er muss zu seiner Form zurückkehren wie zu seinen Gedanken.“
Unbeirrbarkeit meint solche Treue zum Themen- und Formenrepertoire, ohne Rücksicht auf politische Opportunitäten und den fordernden Zeitgeist, aber auch ohne Schielen auf die Lorbeeren der Unsterblichkeit. Wie es in einem Gedicht („Epitaph des slavischen Urdichters“) heisst:

Ich bleibe, wo ich bin
in der Erde meiner Sprache,
ich will nicht gerichtet werden auf euren Konzilen,
auch nicht, dass ihr mich unter den offenen Himmel werft
auf den kalten Rost der Ewigkeit.

Zeit jetzt, von jenem zu reden, der Miodrag Pavlovićs Werk im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hat: dem Übersetzer Peter Urban. Urban, einer der verdienstvollsten Entdecker literarischer Perlen aus Russland, Tschechien und dem ehemaligen Jugoslawien, hat bereits 1968 in der edition suhrkamp Gedichte von Pavlović herausgebracht. Einige von ihnen sind – überarbeitet – in die umfangreiche Gedichtauswahl eingegangen, die unter dem Titel Einzug in Cremona 2002 ebenfalls bei Suhrkamp erschienen ist, als bisher repräsentativster Band des serbischen Lyrikers in deutscher Sprache. Doch damit nicht genug. Für die Friedenauer Presse übersetzte Urban 2001 Pavlovics Kriegserinnerungen Usurpatoren des Himmels, ergänzt durch siebzehn Gedichte, und für die Wiener Edition Korrepondenzen erst kürzlich den Zyklus Cosmologia profanata. Ein grosses Engagement, dessen Resultat vollauf überzeugt.
Die Aufgabe war nicht einfach. Immerhin handelt es sich um ein lyrisches Opus, entstanden über fünfzig Jahre, dessen unterschiedliche Facetten sorgsam erkannt und behandelt sein wollen. Es gibt lakonisch-aphoristische, narrative und gleichnishafte Gedichte, ironische, elegische und anspielungsreiche, gereimte, ungereimte und prosaische, es gibt Gedichtzyklen, Poeme und lyrische Notate. Wer Pavlović übersetzt, muss den harten und den klagenden, den knappen und den sarkastischen, den getragenen und den verspielten, den Gesprächston und alle Zwischentöne beherrschen. Er muss die Sprache der Mythen verstehen und das Räsonnieren des Spätgeborenen, die Bilder des Krieges und die Kostümierungen des lyrischen Ichs (als gescheiterter Fürst, verfolgter Sektierer, Flüchtling, Pilger, Bettler). Er muss überraschende Wendungen nachvollziehen, seltsame Pointen, Paradoxien.

Pavlović ist nicht ein Dichter sprachverliebter Marotten, ganz im Gegenteil. Er tendiert weder zum Kalauer noch zur ausgefallenen Metapher, jede Überinstrumentierung ist ihm fremd. Seine Imagination, vielfältig und bis ins kollektive Unbewusste hineinreichend, verlangt nach klarem, kompaktem Ausdruck. Hier liegt die Herausforderung für den Übersetzer: in einer undogmatischen Klassizität, in einem luziden Stil, der Erzählung und Reflexion lakonisch verbindet.
Peter Urban hat die Schwierigkeiten souverän gemeistert. Lieber verzichtet er da und dort auf Reime, doch nie verrät er den Ton von Pavlovićs „klugen und strengen Versen“ (Vasko Popa). Bei aller Stimmenpolyphonie bilden diese einen konzisen Kosmos, darin das didaktische Räsonnement seinen festen Platz behauptet. Urban respektiert die Recherche, den Impetus des Fragens und Klärenwollens. In seiner sinnigen, unter dem Titel Einzug in Cremona erschienenen Auswahl von Pavlović-Gedichten hat er eines an den Anfang gestellt, das diese Recherche als eindringlichen Fragenkatalog vorführt. In makellos klarer Übersetzung lautet es:

Hand aufs Herz! wenn wir fragen was inzwischen geschehen ist.
Die Welt ist nicht mehr so, wie sie geschaffen wurde.
Hat sie sich wirklich in diesem Masse verändern können?
Warum ergibt die Verbindung aus Sonne und ihrem Salz
mit dem quecksilberweissen Mond irgendein Harz,
einen Schlamm und klebrigen Kitt? Ist das Gesetz gefallen
das die Materie regiert, oder ist der Schöpfer abgesetzt?
Kann das jemand in Ordnung bringen und den Himmel
auf die Füsse stellen, ohne nach Golgatha zu gelangen?
Das Herz in die Hand! Ich bin ungeduldig
und welche Sprache soll ich lernen? Sanskrit, Griechisch oder Ivrit?

So fragt – 1996 – der achtundsechzigjährige Dichter, neugierig, ruhelos. Kein Rentner, vielmehr ein nimmermüder Suchender und Forscher in poeticis.
Zu danken ist ihm für ebendiese Unermüdlichkeit – und seinem Übersetzer für die treue Solidarität. Zu beglückwünschen ist mithin ein Paar, dessen einzelne und konzertante Bemühungen zu weiterer Suche anregen – in besserwisserisch-ignoranter Zeit.

Ilma Rakusa, aus: Hermann Wallmann (Hrsg.): Als ihr Alphabet mich in die Hand nahm, Daedalus Verlag, 2011

 

 

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