Nico Bleutge: Zu Thomas Klings Gedicht „in seitenlage, eben noch…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Thomas Klings Gedicht „in seitenlage, eben noch…“. 

 

 

 

 

Thomas Kling

in seitenlage, eben noch
ein junger hase.
biegsam, ganz, noch
völlig flauschig.
auf beiden seiten
ohne wunde.
sonne scheint ihm rosa
durchs ohr.

die uhr läuft drei
goldene fliegen und
eine wespe sonnengelb
erscheinen wortlos
auf wuscheligem
sommeraas.

 

In Seitenlage

Die Romantiker stellten sich die Sprache und das Bewußtsein als eine Art Bergwerk vor, in dem zwergengleiche Wesen wertvolle Steine abtragen. Eine Vorstellung, die so gewaltig strahlte, daß selbst ein romantischer Spätzünder wie Heine noch in ihren Bann geriet. Thomas Kling meinte einmal, der Dichter könne sogar in den Berg hineinschauen. Wenn ihm eine Metapher gelinge, wenn er die verschiedenen Wortschichten miteinander zum Glimmen bringe, entstehe aus diesem Moment heraus ein Brennsatz, der es dem Schreibenden erlaube, in die Schichten der Zeit und der Sprache zu sehen.
Es muß übrigens kein Berg sein. Es genügt schon eine Grube, eine Mergelgrube zum Beispiel, wie bei Annette von Droste-Hülshoff. Oder eine kleine Höhle. Ein Kaninchenbau vielleicht. Und wenn sich darin, oder genauer: davor, auch kein Kaninchen finden läßt, so doch zumindest etwas, das einem Kaninchen ähnelt, wie in diesem Gedicht von Thomas Kling.
Das ist nun sicher kein idyllisches Bild. Eine harmlose Skizze scheinbar. Und doch ist die ganze Tradition der Lyrik seit Baudelaires berühmtem „Une charogne“ anwesend. „Ein Aas“, hat Friedhelm Kemp in seiner Übersetzung daraus gemacht, ein totes Tier, das am Wegrand liegt. Baudelaires „an eines Weges Biegung“ wird bei Kling zum „biegsam“, die „Sonne“ zum klaren „sonnengelb“ der Wespe, und die „Fliegen“, die „summten“, werden zu „goldenen fliegen“. Die Wespe wiederum ist Klings Lieblingstier, die aggressive Variante jener Bienen, die schon in der Antike für den Schreibenden stehen. Es geht also auch bei Kling um die Dichtung, wie es in Baudelaires Gedicht einen Künstler gibt, der seinen schwindenden Entwurf, das Aas, „aus dem Gedächtnis nur vollendet“. Und es gibt einen klaren Bezug zur Gesellschaft. Nur ist Klings Künstler weitaus unaufdringlicher; wo Baudelaire die Maden wimmeln läßt, begnügt sich Kling mit der eleganten Andeutung: „die uhr läuft“. Aber in diesen drei Wörtern bündelt Kling eine Reflexion von Gesellschaft, die den gesamten Zyklus, zu dem das kleine Hasen-Stück gehört, durchzieht. Es ist nicht zuletzt eine Kritik am Umgang des Menschen mit dem, was man so leichthin „Natur“ und „Tier“ nennt, an einem Umgang, der rein auf Verwertung und Funktionalität ausgerichtet ist.

Nico Bleutge, Teil des Essays „Wo Jupiter Kaninchen hütet“ in: Neue Zürcher Zeitung, 11.6.2015

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