Norbert Mecklenburg: Zu Ernst Jandls Gedicht „Die Morgenfeier, 8. Sept. 1977“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Jandls Gedicht „Die Morgenfeier, 8. Sept. 1977“ aus Ernst Jandl: Poetische Werke in zehn Bänden. Band 7: Die Bearbeitung der Mütze. 

 

 

 

 

ERNST JANDL

Die Morgenfeier, 8. Sept. 1977
für friederike mayröcker

einen fliegen finden ich in betten
ach, der morgen sein so schön erglüht
wollten sich zu menschens wärmen retten
sein aber kommen unter ein schlafwalzen
finden auf den linnen ich kein flecken
losgerissen nur ein zartes bein
und die andern beinen und die flügeln
fest an diesen schwarzen dings gepreßt
der sich nichts mehr um sich selbst bemüht
ach, der morgen sein so schön erglüht

 

Feierlichkeit, Komik und Trauer

Ein ekliger Gegenstand, eine verhunzte Grammatik, ein Gedicht in feierlich gehobener Versform – wie reimt sich das zusammen? In seinem Bett, beim Erwachen, findet jemand eine zerdrückte Fliege, na und? Ein zwar widerwärtiges, aber geringfügiges Ereignis wird hier einer ebenso befremdlichen wie genauen Betrachtung unterzogen. Wie konnte das kleine Unglück passieren? Eine Stubenfliege wollte sich aus Nachtkälte „zu menschens wärmen retten“, ist jedoch zu ihrem Pech „unter ein schlafwalzen“ geraten. Zwischen Schlafwagen und Schlafwandler fehlt im Wörterbuch Schlafwalze. (Nicht im Versandkatalog für Betten, der als „Schlafwalze“ anbietet, was nicht erst seit Rosa von Praunheims gleichnamigem Film auch als „Bettwurst“ bekannt ist.) Mögliches Schimpf- und Scherzwort zwischen Ehepartnern? Typische Wortverjandlung: ein Mensch, der sich im Schlaf wälzt.
Der angewiderte Blick nimmt den zu einem unförmigen „schwarzen dings“ plattgewalzten Fliegenkadaver wahr, daneben ein abgerissenes Bein. Und hierbei wandelt er sich zu einem ästhetischen Blick, denn es ist ein „zartes Bein“. Natürlich, sagt uns der Biologielehrer, ist ein Insektenbein fein gebaut: Coxa, Trochanter, Femur, Tibia, Tarsus heißen seine Glieder. Aber „zart“ enthält mehr als das. Dieses geradezu liebevolle Beiwort findet sich schon in der – sonst sehr wortknappen – lyrischen Vorstufe zur „Morgenfeier“. Sie lautet:

ein stückchen schwarzer Wolle – nein
eine fliege, daneben
ein zartes Bein.

Hier herrscht allerdings noch so viel Unbestimmtheit, daß sich ein Leser, zumindest ein männlicher, ebenso leicht ein Frauenbein vorstellen könnte… In der „Morgenfeier“ dagegen gilt die Zärtlichkeit des Blicks eindeutig einem Fliegenbein. Zärtlichkeit und Trauer, denn das kleine Lebewesen ist tot. Der Morgen ist da, alle Kreatur erwacht, nicht alle, manche bleibt in Nacht verloren.
Banalität und Pathos, Ekel und Anteilnahme, Schönheit und Tod – auf solche Spannungen deuten schon die beiden Anfangsverse, deren zweiter zugleich als Schlußvers wiederholt wird. Sein „Ach“ gibt diesem Erlebnisgedicht, diesem Naturgedicht einen Anhauch von Elegie. Ein Epitaph für eine Fliege – ist das aber nicht lächerlich, komisch, parodistisch und zu weiterem Parodieren reizend? („Warum hat sie mit mir auch angebandelt? Hab ich sie in ein schwarzes Dings verwandelt!“) Zweifellos gehört Komik zu den Wirkungsmitteln dieses Gedichts: die jämmerlich verdrehte Grammatik, das Ineinander von hohem Stil („schön erglüht“, „linnen“) und ,wienerischer‘ Mundart (der Dings), die Selbstverfremdung des Sprechers zur grotesken „Schlafwalze“, die Heidegger-Parodie in der vorletzten Zeile (Originalton „Sein und Zeit“: „Das Dasein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht“).
Als Parodie im wörtlichen Sinn, als Gegengesang, nehmen sich auch Anklänge an Klopstock und Hölderlin aus. Bei diesem heißt es in einer Morgen-Ode:

Gewölke streifen rötliche Flammen dort.

Jener besingt in seinem berühmtesten Gedicht, der Hymne „Frühlingsfeier“, das Weltall, den Allmächtigen, ein Gewitter und – ein grüngoldenes „Frühlingswürmchen“, ein Insekt also. Eine – gleichfalls grüngoldene – kleine Fliege hat schon der erste deutsche Naturlyriker, der Hamburger Senator Barthold Heinrich Brockes, mit ihrem metallischen Glanz (offenbar eine Schmeißfliege) schöpfungsfromm bedichtet.
Zu solcher und überhaupt jeder Art von Erbaulichkeit, versteht sich, kann Jandls „Morgenfeier“ nur parodistische Beziehungen unterhalten. Was heißt überhaupt „Morgenfeier“? Zwischen Morgendämmerung und Morgengabe fehlt im Wörterbuch auch dieses Wort. Wer aber im Internet nachschaut, findet jede Menge Morgenfeiern, katholische, evangelische, ökumenische und sogar christlich-islamische. Sie werden auch Morgenandachten genannt. Im Rundfunk wurde 1924 die erste evangelische, 1926 die erste katholische Morgenfeier ausgestrahlt. Im Jahr dazwischen wurde in Wien ein Lyriker geboren und gab alsbald seine ersten „Lautgedichte“ von sich. Seine „Morgenfeier“ vom 8. September 1977 ist ein deutliches Gegenprogramm zu jener religiösen Rhetorik. Gewidmet ist sie seiner Frau, der Lyrikerin Friederike Mayröcker. Denn:

Sie liebt dieses Gedicht.

In parodistischer Sprachkomik erschöpft es sich allerdings nicht. Die „heruntergekommene Sprache“ in Nachbarschaft zu „Gastarbeiterdeutsch“, mit der Jandl eine Zeitlang poetisch experimentierte („du sprecken deuts?“), ist hier auch diskrete Hülle für einen ganz ernsthaften Ausdruck von „Mitgefühl mit dem Tier, und sei es auch nur einer Fliege“ (Jandls Selbstkommentar in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen). Der Sänger der „Frühlingsfeier“ war dessen ungewiß, ob das kleine Insekt neben ihm wohl auch eine Seele habe. „Du lebst; und bist“, redete er es an, „vielleicht – ach, nicht unsterblich!“ Jandls „Ach“ ist viel trauriger als Klopstocks. Seine Fliege ist tot. Dennoch ist sie – dessen dürfen wir gewiß sein – zumindest ein wenig unsterblich. Wenn die Behauptung stimmt: Was unsterblich im Gesang soll leben, muß im Leben platt gewalzt werden.

Norbert Mecklenburgaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005

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