Norbert Mecklenburg: Zu Paul Celans Gedicht „Du liegst im großen Gelausche“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Du liegst im großen Gelausche“ aus Paul Celan: Die Gedichte –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Du liegst im großen Gelausche

Du liegst im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.

Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –

Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –

Der Mann ward zum Sieb, die Frau
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –

Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
aaaaaastockt.

 

Der Landwehrkanal wird nicht rauschen

„Du liegst im großen Gelausche…“: Der Leser wird hineingezogen in etwas zwischen Wachtraum und Meditation. Zugleich wird er auf Abstand gehalten. Das „Du“ meint ihn nicht direkt, denn da spricht deutlich ein anderer mit sich selbst, und zwar so, daß man ihn nur entfernt verstehen kann. Bestimmtes und Unbestimmtes, scharf Belichtetes und Dunkles stehen nebeneinander. Stille, Büsche, Schneefall – ein Ort äußerer Geborgenheit. Zugleich ein Ausgangspunkt für Erkundungen in Berlin:

Geh du zur Spree, geh zur Havel…

Die Aufforderung beschwört zwei Erkundungsziele in zwei gleich stark ausgeprägten, jedoch äußerst verschiedenen Bildern. Sie werden als bekannt vorausgesetzt, die Fleischerhaken, die Äppelstaken. Diese kann der Besucher eines norddeutschen Weihnachtsmarkts kennenlernen. Jene kennt, wer das Nötigste von deutscher Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert weiß, als die Werkzeuge der Barbarei. In Berlin-Plötzensee ließ Hitler die Verurteilten des 20. Juli 1944 an Eisenhaken aufhängen.
Einschnitt, Wechsel in scheinbar Surreales: Ein Tisch kommt an und bewegt sich um „ein Eden“. Anklang an Advent:

Es kommt ein Schiff geladen…?

Auch „der Tisch“ soll bekannt sein. Als weihnachtlicher Gabentisch? Oder was für andere „Gaben“ werden da transportiert? Ein Eden, sächlich, kann nicht der biblische Garten sein aus dem der erste Mann und die erste Frau vertrieben wurden. Dieses „Eden“ ist ein Hotelname wie anderswo so auch in Berlin. Gehst du dieser Spur nach, dann stößt du auf eine zweite Stätte, ein zweites Datum deutscher Gewaltgeschichte im zwanzigsten Jahrhundert. So versichert es, zu Ende gelesen und gedacht, das Gedicht dem Leser. Zunächst ein neuer Einschnitt, jetzt Sprung in Vergangenheit: Aufs knappste wird ein Ereignis, das einen Mann und eine Frau betrifft, erinnert und kommentiert. Ein Gewaltakt, ein Mord, aus den Dokumenten zitiert mit der hämischen Sprache der Mörder: der Mann, mit Schüssen durchlöchert wie ein Sieb, die Frau eine Sau. Eine Judensau, wie das urchristliche Schimpfwort vollständig lautet. Worum handelt es sich? Den Schlüssel enthält die drittletzte Zeile mit dem Berliner „Landwehrkanal“. In ihm schwimmt bekanntlich, nach jenem zynischen Gassenhauer, „eine Leiche“. Aber was heißt „bekanntlich“? Wiederholt habe ich insgesamt etwa 200 Studierende der deutschen Literatur zu diesem Gedicht befragt: Die meisten dachten an Krieg, Verfolgung, DDR-Flucht. Nicht einmal jeder zehnte fand den Schlüssel. Dieser Prozentsatz erhöhte sich auch nicht, nachdem Margarethe von Trottas Spielfilm Rosa Luxemburg in die Kinos gekommen war.
Das paßt zu der Vorhersage, mit der das Gedicht schließt. Eine Tote staut keinen Kanal, so daß er ins Rauschen käme. Alles wird wie gewohnt weitergehen, auch das kollektive Vergessen. „Nichts / stockt“, allenfalls kurz der Atem zwischen zwei einsilbigen Gedichtzeilen. Unausgesprochen klingt hier ein Stoßseufzer aus Büchners Danton mit: Daß doch, durch einen Aufschrei der Empörung, „alles stockt“. Noch 1962 hat die christliche Regierung Adenauer die politischen Morde an den beiden führenden linken Politikern Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in der Nacht vom 15. zum 16. Januar 1919 durch Offiziere eines konterrevolutionären Freikorps als „standrechtliche Erschießungen“ gerechtfertigt. Die Opfer waren vorher in dessen Berliner Hauptquartier verschleppt worden: ins Hotel Eden.
Am 10. November 1938, also unmittelbar nach der Pogromnacht, war Paul Celan das erste Mal nach Berlin gekommen. Ende 1967 hielt er sich zum zweiten und letzten Mal dort auf. Dieses „Wintergedicht“, wie er es zunächst nannte, schrieb er in der Nacht vom 22. zum 23. Dezember. Ein Gelegenheitsgedicht, das Spuren dieses Aufenthalts trägt, ein Erlebnisgedicht geradezu. Persönliche Erfahrung ist festgehalten, auch mit einzelnen Bestandteilen die dem Leser fremd bleiben können.
Als Ganzes jedoch ist das Gedicht so gestaltet, daß es sich entziffern läßt: als ein negatives Adventsgedicht, als Einspruch eines Ruhestörers. Akademische Celanisten haben den Autor zum reinen Hermetiker machen wollen. Er selbst aber verstand Dichtung als eine „Bewegung auf die Wirklichkeit zu“.

Norbert Mecklenburgaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

2 Antworten : Norbert Mecklenburg: Zu Paul Celans Gedicht „Du liegst im großen Gelausche“”

  1. Ioanna sagt:

    Helfen Sie mir bitte!! Was heisst auf deutsch Gelausche? Ich uebersetze dieses Gedicht ins Griechsich aber ich kann nicht einmal ahnen was das sein kann. Ich finde nichts in den deutschen Woerterbuecher
    Danke
    Ioanna

  2. Mens_hominis sagt:

    Liebe Ioanna, falls du das nach all der Zeit noch liest: Das ist eine eher ungewöhnliche Ableitung von „lauschen“ (also zuhören, hinhören). Substantiv-Ableitungen mit „Ge-“ bedeuten ursprünglich eine wiederholte Handlung (iterativ: z. B. „Gespräch“) oder ein Kollektiv (z. B. „Geäst“, „Gebüsch“), sind heute aber meistens negativ konnotiert, wenn sie von Verben abgeleitet sind (z. B. „Gerede“, „Gemache“).
    Die einfachste Übersetzung wäre also, es als „im großen Lauschen“ zu lesen. (Da frage ich mich, wie man auf Griechisch überhaupt Verben substantiviert, so ohne Infinitiv. Leider habe ich nur Altgriechisch gelernt.) Aber dabei ginge ein bisschen verloren.

    Der Redaktion vielen Dank für den interessanten Artikel!

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